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„Wenn wir nichts ändern, 
führt das in die Katastrophe“

Professor Heinz Rothgang über den Pflegenotstand

Forschung

Der renommierte Gesundheitsforscher und Pflegeökonom Professor Heinz Rothgang findet es unsolidarisch, ausländische Fachkräfte aus Osteuropa anzuheuern. Auch Roboter sind für ihn keine umfassende Lösung. Allerdings wird die Digitalisierung Erleichterungen in der Dokumentation der Pflege bringen. Gemeinsam mit seinem Team und Partnern arbeitet Rothgang an einem wissenschaftlich begründeten Personalbemessungsverfahren für stationäre Pflege.

Herr Rothgang, immer häufiger hören wir in der Öffentlichkeit das Wort „Pflegenotstand“. Ist das Panikmache oder ein tatsächliches Problem?

Es gibt einen Pflegenotstand – und zwar in doppelter Bedeutung. Erst einmal haben wir zu wenig Pflegekräfte, um die vorhandenen Stellen zu besetzen. 2017 waren allein in der Langzeitpflege 23.000 dieser Fachkraftstellen unbesetzt. Zusammen mit 8.000 offenen Stellen für Altenpflegehelferinnen und -helfer sind das mehr als 30.000. Einer der Gründe für den Pflegekräftemangel ist das frühzeitige Ausscheiden aus dem Beruf. In Befragungen wie der „Nurses Early Exit Studie“ zeigt sich als Hauptgrund für Berufsausstiege, dass die Pflegekräfte die vorherrschenden Arbeitsbedingungen als nicht geeignet ansehen, um andere angemessen zu pflegen. Gerade weil die Menschen in der Pflege häufig sehr engagiert sind, kehren sie dem Beruf den Rücken. Die Wiederbesetzung von Pflegestellen ist dann ein mühsames Geschäft und dauert durchschnittlich ein halbes Jahr statt vier Wochen wie in anderen Branchen.

Wie sind die Prognosen für die Zukunft?

Modellrechnungen zeigen, dass wir in den vier Jahrzehnten von 2015 bis in die 2050er-Jahre mit einer Zunahme der Zahl Pflegebedürftiger um 80 Prozent rechnen müssen. Gleichzeitig geht wegen des demografischen Wandels das Erwerbspotential der Bevölkerung um 20 bis 30 Prozent zurück. Um nur den Status Quo, also die Betreuungsrelationen von heute, zu halten, müssten wir den Anteil der Beschäftigten in der Langzeitpflege verdoppeln. Schon bis 2030 ergibt sich – wenn sich nichts ändert – eine Beschäftigungslücke von 350.000 Beschäftigten. Hierin eingeschlossen sind jetzt alle Beschäftigen in der Langzeitpflege, nicht nur Pflegefachkräfte. Diese Zahl bezieht sich auf Vollzeitäquivalente. Da aber viele in diesem Bereich in Teilzeit arbeiten, sprechen wir hier von einer halben Million Köpfen, die uns bereits 2030 fehlen. Wenn wir nichts ändern, führt das geradewegs in die Katastrophe.

„Schon bis 2030 ergibt sich – wenn sich nichts ändert – eine Lücke von 350.000 in der Langzeitpflege Beschäftigten.“

Sind Pflegekräfte aus dem Ausland eine Lösung?

Das Problem ist nicht beseitigt, wenn wir osteuropäischen Ländern die gut ausgebildeten Pflegekräfte wegsaugen. Die demographische Alterung ist dort zwar noch nicht so ausgeprägt wie bei uns, das wird sich aber ändern. Schon jetzt sind Pflegekräfte in praktisch allen EU-Ländern Mangelware. Ich war als Vertreter Deutschlands Teilnehmer einer sogenannten „Joint Action“ der EU zu diesem Thema. Vertreterinnen und Vertreter aus 28 Ländern haben teilgenommen – und alle haben über mangelnde ­Pflege­fachkräfte geklagt. Innerhalb Europas ist es daher sehr unsolidarisch, wenn der Osten die Fachkräfte ausbildet, die dann in den Westen gehen. Wir müssten uns wenigstens an den Ausbildungskosten beteiligen. Wenn wir über Osteuropa hinaus Richtung Asien schauen, müssen wir bedenken, dass China das am schnellsten alternde Land der Welt ist. Japan hat schon 2000 eine Pflegeversicherung eingeführt, Korea 2008. Mittel- und langfristig treten wir somit zu diesen Ländern in Konkurrenz um Pflegekräfte. Ausländische Pflegekräfte können daher nur kurz-, allenfalls mittelfristig zu einer Entlastung führen. Langfristig müssen wir schon selbst die Kräfte ausbilden und im Beruf halten, die wir brauchen.

„Das Problem ist nicht beseitigt, wenn wir osteuropäischen Ländern die gut ausgebildeten Pflegekräfte wegsaugen.“

Die Bundesregierung will verstärkt Pflegekräfte aus der EU anwerben. Wie bewerten Sie deren sprachliche Qualifikation?

Das ist ein weiteres Problem. Wir propagieren eine biographieorientierte Pflege. Dabei werden Geschichte und Erfahrungen der Betroffenen berücksichtigt. Dafür brauchen wir Fachkräfte mit Kenntnissen und Einfühlungsvermögen, die in Kontakt mit alten und dementen Menschen treten können. Dazu müssen sie deren Sprache sprechen. Auch wenn ausländische Pflegekräfte, bevor sie in Deutschland arbeiten, einen Sprachkurs absolviert haben, reicht das Erlernte nicht, um auf diesem Niveau mit den Pflegebedürftigen zu kommunizieren.

Welche Möglichkeiten, die Qualität der Pflege zu erhalten, sehen Sie als Experte?

Eine Chance ist die Digitalisierung. Sie wird insbesondere die Ablauforganisation wesentlich erleichtern. Die Berge von Papierdokumentationen, die in den Einrichtungen erstellt werden, werden in der Regel für die Pflegeprozesse nicht genutzt und sind daher sinnlos. Es geht aber darum, die dokumentierten Informationen tatsächlich als ein Instrument zur Prozesssteuerung und Qualitätssicherung zu nutzen. Mit dem Generationenwechsel werden wir junge Fachkräfte bekommen, die mit der Digitalisierung sozialisiert sind. Dann wird es für alle leichter, dieses Potential zu nutzen.

Wie sieht es mit dem Personalmix aus?

Gemeinsam mit meinem Team und Partnerinnen und Partnern aus der Universität entwickeln wir ein wissenschaftlich fundiertes Personalbemessungsverfahren für stationäre Pflege, das die gemeinsame Selbstverwaltung in der Pflege in Umsetzung eines Gesetzesauftrags ausgeschrieben hatte. Das ist ein Riesenprojekt. Im Ergebnis werden wir ein Verfahren vorlegen, das die fachlich notwendige Personalmenge in Abhängigkeit von den Bewohnerinnen und Bewohnern einer Einrichtung ermittelt und dabei zwischen Fachkräften und Assistenzkräften differenziert. Es resultieren dann einrichtungsspezifische „Fachkraftquoten“, die die bislang gültige einheitliche Quote von 50 Prozent Fachkräften ersetzen. Diese aktuelle Quote wurde irgendwann einfach so festgelegt. Vielleicht zeigt sich aber, dass dasselbe Ergebnis auch mit einem anderen Mischungsverhältnis erreicht werden kann. Zum Beispiel mit sehr viel mehr Händen, auch wenn der Fachkräfteanteil dabei sinkt. Das wollen wir herausfinden.

Wäre es nicht am wirkungsvollsten, die Bezahlung in der Altenpflege zu verbessern und die Stellen damit attraktiver zu machen?

Tatsächlich ist das ein erklärtes Ziel der Politik, das aber schwer umzusetzen ist. Für die Berufsausstiege sind zwar vor allem die Arbeitsbedingungen verantwortlich, für die Berufswahl spielt die Entlohnung dagegen eine größere Rolle. Gerade junge Männer schauen mehr aufs Geld, und wir suchen und brauchen auch männliche Pflegekräfte. In der Altenpflege verdient das Personal zudem im Schnitt 600 Euro weniger als in der Krankenpflege. Wenn wir jetzt mit dem neuen Pflegeberufe-Gesetz die generalistische Ausbildung einführen, werden alle Auszubildenden mindestens zwei Jahre lang gemeinsam unterrichtet. Sie können dann in der Altenpflege genauso wie in der Krankenpflege eingesetzt werden. Was meinen Sie, wo die dann angesichts dieser Gehaltsunterschiede hingehen? Der Altenpflegebereich muss deshalb in punkto Bezahlung aufholen. Die Tarifsituation ist in dieser Branche aber kompliziert. Wohlfahrtsverbandliche Träger haben je eigene Regelungen und die privaten Anbieter haben – wenn überhaupt – über­wiegend Hausverträge. Das ist ein Tarifdschungel, der es sehr erschwert, einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich zu erklären. Womöglich müsste dafür das Tarifvertragsgesetz geändert werden.

„Der Versuch, Roboter in der Pflege einzusetzen, ist sehr technikgetrieben.“

Ein weiterer Vorschlag gegen den Fachkräftemangel in der Altenpflege vorzugehen, ist der verstärkte Einsatz von Robotern. Was halten Sie davon?

Das ist ein echter Hype. Seit ein paar Jahren wird beispielsweise die Kuschelrobbe Paro eingesetzt, die tatsächlich gut funktioniert. Menschen mit Demenz werden ruhiger, wenn sie sie im Arm halten. Das ist besser als medikamentöse Beruhigung – allerdings wäre menschlicher Kontakt womöglich noch besser. Bekannt ist auch noch Pepper, ein Roboter der darauf programmiert ist, Mimik und Gestik von Menschen zu analysieren und entsprechend zu reagieren. Die möglichen Einsatzbereiche solch sozial interaktiver Roboter sind bisher aber noch sehr begrenzt. Sie werden in Forschungsprojekten vor allem zur Unterhaltung oder auch zum Gedächtnistraining eingesetzt. Der Beitrag zur Entlastung für die Pflege ist dabei noch gering. Der Einsatz von Robotern in der sozialen Betreuung bedeutet letztlich, dass zwischenmenschliche Interaktion durch Maschinen ersetzt wird. Wollen wir das in der Pflege? Ich denke eher nein, und nach dem aktuellen Stand der Forschung ist der Weg dahin auch noch recht weit. Generell ist der Versuch, Roboter in der Pflege einzusetzen, häufig immer noch sehr technikgetrieben. Auch wenn in der Robotik sicherlich Potential steckt, glaube ich letztlich immer noch, dass Pflege viel mit zwischenmenschlichem Austausch zu tun hat und wir daran festhalten sollten. 

Zur Person

Heinz Rothgang in seinem Arbeitszimmer. 
Foto: Harald Rehling / Universität Bremen

Professor Heinz Rothgang ist Pflegeforscher und Gesundheitsökonom. Was verbirgt sich hinter letzterem? „Die Gesundheitsbranche ist ein riesiger Wirtschaftsfaktor“, sagt der Wissenschaftler. „Sechs Millionen Menschen sind in Deutschland in dieser Branche beschäftigt und setzen zehn Prozent des Bruttosozialprodukts um.“ Das sei mehr als in der Automobilindustrie. Sein Fachgebiet beschreibt er als „Anwendung ökonomischen Denkens auf den Bereich Gesundheit und Pflege“.

Rothgang ist seit 2006 Leiter der Abteilung Gesundheit, Pflege und Alterssicherung am SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik (bis 2015 Zentrum für Sozialpolitik ZeS). Er ist neben Forschung und Lehre in hochrangigen Gremien tätig. So war er zehn Jahre lang im Beirat zur Überprüfung, Ausgestaltung und Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs, der im Zweiten Pflegestärkungsgesetz in der Pflegeversicherung verankert wurde.

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