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„Die russische Regierung will unseren Ruf zerstören“

Interview mit Menschenrechtsaktivist Robert Latypov

Uni & Gesellschaft

Im heutigen Russland ist die Erinnerung an politische Dissidenten in der Sowjetunion in Gefahr, in Vergessenheit zu geraten oder sogar zielgerichtet diffamiert zu werden. Die staatliche Überlieferung steht für die Forschung nicht zur Verfügung und unabhängige Archive werden als „ausländische Agenten“ gebrandmarkt. Auch der Menschenrechtsaktivist Robert Latypov, der Leiter der regionalen Gruppe der Nichtregierungsorganisation Memorial, musste vor Repressionen Ende 2019 aus Russland fliehen. Im Interview mit up2date erläutert er, was das Gedenken an den politischen Terror unter Stalin mit Menschenrechtsverletzungen heute zu tun hat.

Warum hat die russische Regierung unter Präsident Putin ein Problem damit, an politische Dissidenten der Sowjetzeit zu erinnern?

Um das zu verstehen, muss man wissen, dass die Regimekritiker und Andersdenkenden der Sowjetzeit in den Augen der russischen Regierung viel Ähnlichkeit mit den politisch Verfolgten von heute haben: Von den Dissidenten waren die wenigsten antikommunistisch, sie haben vielmehr Reformen innerhalb des Systems gefordert und dafür gekämpft, dass die konstitutionell festgeschriebenen Rechte der Verfassung der UdSSR umgesetzt wurden.

Wenn wir uns mit dieser Geschichte beschäftigen, werden viele Parallelen zu heute sichtbar. Die Regierung hat Angst, dass die Beschäftigung mit den Dissidenten die Menschen dazu bringt, auch heute für die Rechte zu kämpfen, die ihnen die russische Verfassung garantiert.

Die Gesellschaft Memorial – eine der bekanntesten Nichtregierungsorganisationen in Russland – steht dabei doppelt im Fokus: Wir kümmern uns einerseits um die historische Aufarbeitung vergangenen Unrechts – vor allem der Massenrepressionen gegen die Bevölkerung unter Stalin – und dokumentieren andererseits gegenwärtige Menschenrechtsverletzungen.

Wie denkt die russische Öffentlichkeit über politisch Verfolgte heute?

Ein wichtiger Unterschied zur sowjetischen Zeit: Wer will, könnte Informationen über politisch Verfolgte in Russland bekommen. Die meisten Menschen haben allerdings daran wenig Interesse. Sie sind mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Viele Menschen folgen der staatlichen Propaganda, sind mit ihrer Auslegung einverstanden und der Meinung, dass politische Aktivisten zu Recht als Terroristen verfolgt werden.

Aber das Thema Menschenrechte und Rechtsverletzung gewinnt an Bedeutung und es gibt auch Aktivisten, die sich damit beschäftigen.

Von Oktober 2019 bis März 2020 waren Sie an der Universität Bremen im Exil. Was war passiert, warum mussten Sie aus Russland fliehen?

Das zivilgesellschaftliche Engagement von Memorial, etwa Wahlbeobachtung, ist sehr unbequem für die Behörden. Unsere Arbeit haben sie ständig behindert, daran hatten wir uns schon gewöhnt. Im August 2019 hat das Ganze in Perm eine neue Dimension angenommen. Plötzlich ging es darum, den Ruf unserer Organisation in der Öffentlichkeit zu beschädigen. Dazu bedient sich die Regierung einer besonderen Taktik: Sie erfinden eine Straftat, die nicht durch die Polizei oder die Staatsanwaltschaft angezeigt, sondern durch Journalisten „aufgedeckt“ wird. Was folgt ist eine mediale Vorverurteilung.

Es begann damit, dass wir wie jedes Jahr seit 20 Jahren die Sommerexpedition „Flüsse der Erinnerung“ zu entlegenen Gräbern von GULAG-Opfern durchführten, um diese instandzusetzen und zu pflegen. An der letzten Expedition im August 2019 nahmen fünf Freiwillige aus Litauen teil und wir wollten einen Friedhof mit russischen und litauischen Toten aus dem einstigen Lager aufräumen. Plötzlich tauchten Polizei, Geheimdienst, Forstamt und andere Beamte auf und forderten uns auf, den Friedhof zu verlassen. Zunächst wurden wir als Zeugen wegen angeblicher „unrechtmäßiger Waldarbeiten“ verhört. Aber die Tatsache, dass es sich um das Gedenken von litauischen GULAG-Opfern gehandelt hat, muss eine Linie überschritten haben: Das Verhältnis von Russland zu den baltischen Staaten ist von Konflikt und Misstrauen geprägt.

Im Oktober wurden erst unsere Büroräume durchsucht und unsere Technik beschlagnahmt. Dann stand kurz darauf das Team eines staatlichen Fernsehsenders in meinem Büro und konfrontierte mich damit, angeblich strafbares Material gefunden zu haben. So wollten sie einen Vorwurf der Pädophilie konstruieren. Die Situation war sehr ernst. Ein anderer Memorial-Mitarbeiter, Juri Dmitrijev, sitzt bereits seit drei Jahren wegen dieses Vorwurfs ohne Prozess in Untersuchungshaft. Deshalb entschied ich mich, Russland für eine Weile zu verlassen. Während meiner Abwesenheit haben sich Gerichte mit dem Vorwurf befasst und das Verfahren eingestellt. Wäre ich aber dageblieben, hätte es mir wie meinem Kollegen gehen können. Ich bin sehr froh und dankbar, dass ich hier an der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen Freunde und Unterstützer habe. Die FSO ist immer noch ein sicherer Hafen – das ist sehr wichtig.

Wie geht es jetzt für Sie weiter?

Wichtig ist nun, den Ruf von Memorial wiederherzustellen. Wir denken nicht daran, mit unserer Arbeit aufzuhören. Wir wollen erreichen, dass die Menschen ein größeres Bewusstsein für die gesellschaftlichen Entwicklungen bekommen. Russland ist mein Heimatland und ich sehe es als meine Berufung an, zu verhindern, dass sich solche Geschichten wiederholen.

Infos zu “Memorial” und zur FSO

Memorial ist eine internationale Menschenrechtsorganisation mit Sitz in Moskau. Sie ist die wohl bekannteste russische NGO. Sie entstand 1988 aus einer breiten Bürgerbewegung am Ende der Sowjetzeit während der Perestroika. Ziel dieser Bewegung war es, an die Opfer des kommunistischen Regimes zu erinnern. Schwerpunkte heute sind die historische Aufarbeitung politischer Gewaltherrschaft, die Einhaltung der Menschenrechte und die soziale Fürsorge für die Überlebenden des sowjetischen Arbeitslagersystems (GULAG). Die Vereinigung erhielt einige internationale Auszeichnungen, darunter den Right Livelihood Award (Alternativer Nobelpreis) 2004.

Das unabhängige Archiv der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen hat es sich seit seiner Gründung 1982 zur Aufgabe gemacht, Zeugnisse kritischen Denkens in Osteuropa zu sammeln und zu erforschen. Es verfügt heute über eine weltweit einzigartige Sammlung von mehr als 600 Vor- und Nachlässen ehemaliger Regimekritikerinnen und -kritiker, Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten, Schriftstellerinnen und Schriftsteller sowie Künstlerinnen und Künstler aus der ehemaligen Sowjetunion; aus Polen und der ehemaligen Tschechoslowakei wurden einmalige Bestande an selbstveröffentlichter Literatur (Samisdatliteratur), Flugblättern und Untergrundbriefmarken zusammengetragen. Kleinere Sammlungen stammen auch aus der ehemaligen DDR und Ungarn.

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