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Wenn der Mensch zum Teilchen wird

Wie die Soziophysik Verhaltensphänomene simuliert – und erklärt

Uni & Gesellschaft

Wie tickt der Mensch, und wie verhält er sich? Das versuchen verschiedene Wissenschaften herauszubekommen und auf den Punkt zu bringen, klassischerweise die Sozialwissenschaften mit Umfragen, Erhebungen und Studien. Aber auch die Physik mischt seit einiger Zeit mit – mit erstaunlichen Ergebnissen.

Soziophysik nennt sich dieses Teilgebiet, und der Name verrät bereits, dass es um soziologische und sozialwissenschaftliche Fragestellungen in Verbindung mit Physik geht. An der Universität Bremen forscht und lehrt Professor Stefan Bornholdt dazu. „Seine Wurzeln hat dieser Zweig in der Econophysics, die Werkzeuge aus der statistischen Physik nutzt. Die zunehmende Computerisierung und das noch neue Internet brachten es in den 1990er-Jahren mit sich, dass theoretische Physiker neugierig auch Börsendaten angeschaut haben und dabei erstaunt bemerkten, dass diese ähnliche Eigenschaften wie Lawinen oder Erdbeben haben, die man aus der Physik gut kennt. Daher kam die Idee, ökonomisches Massenverhalten – zum Beispiel bei einem Crash oder einer Hausse an der Börse – mit Methoden der Physik zu untersuchen“, erklärt Bornholdt.

Wie verhalten sich Menschenmassen?

Während in dem neuen Gebiet der Econophysics angefangen wurde, Modelle für die Finanzmärkte zu basteln, wurde dieses Vorgehen mit etwas veränderten Ansätzen auch für die Soziologie interessant. „Für das Verhalten großer Menschenmassen lassen sich ebenfalls physikalische Modelle zusammenbauen“, erläutert der Bremer Hochschullehrer. „Wie Menschen zum Beispiel aus einem großen Stadion strömen, lässt sich ebenso untersuchen wie ihre Meinungsbildung oder ihr Wählerverhalten.“ Denn der einzelne Mensch wird dabei für die Physiker zum Teilchen – ähnlich einem von Millionen Sandkörnern, die einen Hang herunterrieseln: „Welchen Weg die nehmen, scheint Zufall zu sein. Aber die entstehende Lawine folgt doch Gesetzmäßigkeiten und lässt sich mathematisch modellieren.“

Gerade haben Stefan Bornholdt und seine Arbeitsgruppe im Institut für Theoretische Physik der Universität Bremen mit einem aufsehenerregenden Forschungsergebnis gezeigt, welche überraschenden Ergebnisse die Soziophysik hervorbringen kann. Die Wissenschaftler fanden heraus, dass polarisierende politische Botschaften ein Grund für die zuletzt häufiger beobachteten knappen Ausgänge von Wahlen und Abstimmungen sein könnten. „Bei der amerikanischen Präsidentschaftswahl 2016 oder der Brexit-Entscheidung im selben Jahr war eine zunehmende Polarisierung der politischen Lager zu beobachten. Die Positionen wurden radikaler, der Ton schärfer, die Auseinandersetzungen emotionaler. Doch am Ende gab es trotz dieser extremen Bemühungen keinen klaren Gewinner, bloß ein sehr knappes Abstimmungsergebnis. Unserer Meinung nach gibt es da einen kausalen Zusammenhang“, so Professor Bornholdt. „Die wichtigste Erkenntnis unserer Forschungen: Je mehr politische Botschaften geäußert werden, die potentiell abstoßend wirken können oder den politischen Gegner auszugrenzen versuchen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es bei der Entscheidung einen knappen Ausgang oder gar ein Patt gibt.“

Überwachung bringt nichts: Der Benzinpreis verändert sich mehrmals am Tag. Anders als gedacht, sorgt das – so ein Forschungsergebnis aus der Soziophysik – insgesamt für ein höheres Preisniveau.
© Kai Uwe Bohn / Universität Bremen

„Hate Speech“ begünstigt knappe Wahlergebnisse

Die Bremer Forscher griffen für ihre Untersuchungen auf die mathematische Wahrscheinlichkeitstheorie zurück, auf der das sogenannte „Wählermodell“ (Voter Model) beruht. Dieses ist dem physikalischen Modell der Ausrichtung magnetischer Atome sehr ähnlich. „Für die Frage, in welche Richtung sich Wähler schließlich entscheiden, die zunehmend ,Hate Speech‘ ausgesetzt sind, haben wir die Simulation mit einem zunehmenden Anteil abstoßender Botschaften laufen lassen“, sagt Stefan Bornholdt. „Ab einem bestimmten Anteil gab es dann plötzlich keinen Wahlgewinner mehr, stattdessen lief es nur noch auf eine 50:50-Entscheidung hinaus. Dieser Effekt, den wir an einem einfachen Modell im Computer studiert haben, kann unserer Meinung nach auch im realen Leben auftauchen und eine Erklärung für die geschehenen knappen Wahl- und Referendumsausgänge sein.“

Auch andere Forschungsthemen und ihre Ergebnisse zeigen, wie die Soziophysik funktioniert. Schon 2010 hatte die Gruppe um Bornholdt herausgefunden, dass der seit 2010 vorgeschriebene Einbau von „Intelligenten Stromzählern“ in Neubauten und bei grundsanierten Gebäuden womöglich nicht nur die Einsparung von Strom zur Folge hat. Aufgrund der Nachfrage nach Strom zu bestimmten Zeiten könne es am Strommarkt – wie an der Börse – auch Blasen geben, die zu temporären Überlastungen des Netzes und damit „Blackouts“ führen könnten. In einer anderen Studie wiesen die Wissenschaftler nach, dass das mehrfache Verändern des Benzinpreises an einem Tag insgesamt für ein höheres Preisniveau sorgt.

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