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Von wegen ewig! Forschung im Eis der Antarktis

Der antarktische Eisschild ist anders entstanden als bisher gedacht

Forschung

Diese überraschende Entdeckung hat ein internationales Team unter Leitung von Forschenden der U Bremen Research Alliance mithilfe eines einzigartigen Bohrkerns und aufwendiger Modellierungen gemacht. Warum das im Kampf gegen den Klimawandel keine gute Nachricht ist.

Für das Auge eines Laien wirkt der Bohrkern, den Dr. Johann Klages in einem Labor des Alfred-Wegener-Instituts (AWI), Helmholtz-Zentrum für Polar-und Meeresforschung, zeigt, wie ein überdimensionierter, tonartiger Strang, mit dem Kinder Freude haben könnten: dunkel, fest, feinkörnig, mit glatter Oberfläche. Dass er exakt 33,8 Millionen Jahre alt und ein einmaliges Zeugnis unserer Klimageschichte ist, sieht man ihm einfach nicht an.

Für den Wissenschaftler hingegen war schon in dem Augenblick klar, als das Sediment aus 850 Metern Wassertiefe an die Oberfläche des Amundsenmeeres kam, dass hier etwas Besonderes gefunden worden war. „Die Farbe ließ auf organisches Material schließen“, erzählt der Sedimentologe. Nur wo sollten diese Pflanzenreste herkommen in der Eiswüste der Antarktis? Der Bohrkern stellt bisherige Erkenntnisse der Entstehungsgeschichte des eisigen Kontinents vom Kopf auf die Füße. Er stammt von einer Expedition mit dem Forschungsschiff „Polarstern“ in die Westantarktis im Jahr 2017. Bis zu dem Fund war die Wissenschaft davon ausgegangen, dass der Eisschild der Antarktis vom Zentrum ausgehend gebildet worden ist, und zwar vor rund 34 Millionen Jahren in einer Zeit grundlegender Klimaveränderungen, die das globale Klima bis heute beeinflusst. Dann aber hätte das Sediment gröber sein müssen, hätten sich keine Spuren von Pollen oder Sporen darin finden dürfen.

Eine Person sitzt an einem Schreibtisch und schaut durch ein Mikroskop.
Analysiert eine Sedimentprobe: Dr. Johann Klages in seinem Büro
©Jens Lehmkühler / U Bremen Research Alliance

Basierend auf der Analyse des Bohrkerns startete ein internationales Team von Forschenden eine Klimarekonstruktion, von der Klages sagt, sie sei weltweit einmalig. Daten zu den Umweltbedingungen, zu Wasser- und Lufttemperaturen, zu Eispräsenz und Niederschlagsmengen speisten Forschende in das Modell ein und variierten es immer wieder. Das Ergebnis, das in einer kürzlich erschienenen Studie im renommierten Magazin „Science“ beschrieben wird, ist eindeutig: Das Eis bildete sich zunächst in den Gebirgsformationen der ostantarktischen Küste und dehnte sich dann in das Hinterland und langsam nach Westen aus – in einem Zeitraum von etwa sieben Millionen Jahren.

„Schon eine leichte Erwärmung reicht, um das Eis zum Schmelzen zu bringen. Das macht uns ziemliche Sorgen.“ Dr. Johann Klages

„Während die östliche Antarktis schon vereist war, wuchsen im Westen noch Buchen, lag die Mitteltemperatur im Jahresverlauf bei fünf bis sechs Grad“, sagt Klages. Vor allem zeigen die Analysen: Der westliche Eisschild bildete sich nicht nur sehr viel später, er reagiert dadurch auch sehr viel anfälliger auf äußere Einflüsse und Klimaveränderungen. „Schon eine leichte Erwärmung reicht, um das Eis zum Schmelzen zu bringen“, betont der Wissenschaftler. „Das macht uns ziemliche Sorgen.“

Etwa eineinhalb Mal so groß wie Europa ist die größte zusammenhängende Eismasse der Erde. Der Eispanzer der Antarktis ist bis zu 4,5 Kilometer dick. Wie ein gigantischer Kühlschrank kühlt der Kontinent die Wassermassen der Ozeane, beeinflusst Strömungen, Wassertemperaturen und Winde, steuert dadurch das Erdklima und reagiert zugleich besonders empfindlich auf Umweltveränderungen.

Untersuchung eines Bohrkerns
Verrät viel über die Klimageschichte: der 33,8 Millionen Jahre alte Bohrkern
©Jens Lehmkühler / U Bremen Research Alliance

Das gilt insbesondere für die Westantarktis. Während der Eisschild der Ostantarktis zu etwa 85 Prozent oberhalb des Meeresspiegels liegt, ist es im Westen genau umgekehrt. Das immer wärmer werdende und extrem salzhaltige Ozeanwasser unterhöhlt zunehmend das Eis. Die Folge: In der Westantarktis brechen riesige Tafeleisberge, das einst ewige Eis schmilzt und zieht sich immer stärker zurück. „Es setzt ein sich selbst verstärkender Prozess ein, von dem bereits jetzt viele glauben, dass er nicht mehr aufzuhalten ist“, meint Klages.

Um eineinhalb Meter würde der globale Meeresspiegel steigen, würden die Gletscher im Bereich des Amundsenmeeres schmelzen, in dem die Forscher den Bohrkern gezogen haben. „Bricht der gesamte westarktische Eisschild weg, sprechen wir von dreieinhalb bis fünf Metern“, betont Klages – und weist eindringlich auf die Zeiträume der Veränderungen hin.

„Es geht ganz klar um den Schutz von Menschen. Der Erde ist es völlig gleichgültig, was wir hier veranstalten.“ Dr. Johann Klages

Die haben sich in den vergangenen 150 Jahren ergeben, in der Erdgeschichte kaum mehr als ein Wimpernschlag. Eineinhalb Jahrhunderte sind etwa der Zeitraum, in dem die Menschheit gezielt fossile Rohstoffe aus der Erdkruste hervorholt und verarbeitet, die sich dort über Millionen von Jahren abgelagert haben. „In dieser Ausprägung und Schnelligkeit ist das nie zuvor geschehen. Damit haben wir ein gigantisches Experiment gestartet, dessen Ausgang ungewiss ist“, sagt Klages. Was macht das mit unserem Klima und mit uns? In was für einer Zukunft werden wir leben? „Es geht ganz klar um den Schutz von Menschen. Der Erde ist es völlig gleichgültig, was wir hier veranstalten.“

Ein Mann zieht ein Bohrkern vom obersten Fach eines Regals.
Klages holt den Kern aus dem Bohrkernlager des AWI. Dort wird er bei plus vier Grad Celsius gelagert.
©Jens Lehmkühler / U Bremen Research Alliance

Das sehen Prof. Dr. Heiko Pälike und Dr. Torsten Bickert vom MARUM – Zentrum für Marine Umweltwissenschaften der Universität Bremen ähnlich. Der Paläozeanograf und der Geowissenschaftler waren Teil des Expeditionsteams, sie sind Koautoren der Science-Studie, ebenso wie ihr Kollege Dr. Jürgen Titschack. Den Bohrkern mit seinen sechs Zentimetern im Durchmesser haben sie zunächst im Computertomografen gescannt – im Klinikum Bremen-Mitte, einem Kooperationspartner des Instituts. Damit soll gewährleistet werden, dass beim späteren Durchsägen in Längsrichtung wertvolle Bestandteile wie etwa Überreste von Wurzeln vollständig und unberührt sichtbar werden.

Eine Hälfte des Kerns wurde anschließend beprobt, die andere wanderte ins Archiv. Beide werden bei vier Grad Celsius gelagert. „Bohrkerne sind von unschätzbarem Wert. Auch nach Jahrzehnten können sie noch analysiert werden und liefern dann womöglich mit neuen Verfahren noch ausgefeiltere Ergebnisse“, sagt Bickert.

Zwei Männer die vor einer großen Maschine stehen.
Prof. Dr. Heiko Pälike und Dr. Torsten Bickert vor dem Meeresbohrgerät MeBo70
©Jens Lehmkühler / U Bremen Research Alliance

Vom MARUM der Universität Bremen, die wie das AWI Teil der U Bremen Research Alliance ist, stammt auch das Konzept für eine technische Innovation, ohne die der Bohrkern gar nicht hätte gehoben werden können: das Meeresboden-Bohrgerät MeBo70, das auf der „Polarstern“-Expedition erstmals in der Antarktis zum Einsatz kam. Erst sein rotierender Bohrkopf machte es möglich, in den stark verdichteten und harten Boden der Region einzudringen und an der betreffenden Bohrstelle fünf insgesamt zehn Meter lange Bohrkerne an die Wasseroberfläche zu bringen.

„Die Forschungsumgebung in Bremen ist einmalig, nicht nur in technischer Hinsicht. Im Verbund decken wir ganz viele Kompetenzen ab. Bessere Arbeitsbedingungen kann ich mir ehrlich gesagt gar nicht vorstellen. Alle sind mit großer Überzeugung und Motivation dabei.“ Dr. Johann Klages

Für den Sedimentologen Klages ist das MARUM-MeBo70 ein gutes Beispiel dafür, wie sich die einzelnen Mitgliedseinrichtungen der U Bremen Research Alliance in ihrer Arbeit ergänzen und stärken. „Die Forschungsumgebung in Bremen ist einmalig, nicht nur in technischer Hinsicht. Im Verbund decken wir ganz viele Kompetenzen ab. Bessere Arbeitsbedingungen kann ich mir ehrlich gesagt gar nicht vorstellen. Alle sind mit großer Überzeugung und Motivation dabei.“

Bild einer Sumpflandschaft
Kaum zu glauben: Der Küstenbereich der Westantarktis glich einst einer Sumpflandschaft. Das Bild basiert auf Daten eines Sedimentkernes.
© J. McKay

Der 42-jährige Vater von zwei Kindern war bereits fünfmal in der Antarktis. Die Unberührtheit, die Weite, das Licht, das Eis – dies alles fasziniert ihn. „Man wird ehrfürchtig“, sagt er. Der Kontinent ist, der von Menschen am wenigsten beeinflusste und auch wissenschaftlich einer der größten weißen Flecken auf der Landkarte. Vermutlich 2027 wird er erneut mit der „Polarstern“ und dem MeBo70 in die Region aufbrechen. Es ist gut möglich, dass auch Pälike und Bickert wieder dabei sein werden.

Dann sollen mithilfe von Bohrkernen unter anderem Zeiträume untersucht werden mit ähnlichen Kohlendioxidkonzentrationen, wie sie in Zukunft erwartet werden. „Alle Daten, die wir liefern können, sind extrem wichtig, um unsere Klimamodelle zu verbessern, wie sie am AWI in der Paläoklimamodellierungsgruppe von Gerrit Lohmann entwickelt werden“, betont Klages. Wie stabil war die Antarktis damals? Wann setzt der Kipppunkt ein, an dem die Eisschmelze nicht mehr rückgängig gemacht werden kann? „Das wollen wir genauer wissen.“

Zur Veröffentlichung „West Antarctica during peak early Oligocene glaciation“ bei SCIENCE

Grüne Antarktis

Ein sumpfiger Regenwald, in dem sich Saurier tummeln: So hatte den eisigen Kontinent noch niemand gesehen. Das Bild, das die Westantarktis in der Kreidezeit vor etwa 90 Millionen Jahren zeigt und das den Titel der Zeitschrift „Nature“ schmückte, ging um die Welt. Es war die visuelle Darstellung der Analyse von Bestandteilen eines Bohrkerns, den Forschende der U Bremen Research Alliance ebenfalls im Amundsenmeer geborgen hatten. Die Forschung veranschaulichte auch die enorme Kraft des Treibhausgases Kohlendioxid. Obwohl die Sonneneinstrahlung vier Monate ausblieb, betrug die Temperatur im Jahresdurchschnitt zwölf Grad Celsius, was auf eine extrem hohe Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre zurückzuführen ist.

Über das Projekt

Der Artikel stammt aus Impact - Dem Wissenschafts-Magazin der U Bremen Research Alliance

In der U Bremen Research Alliance kooperieren die Universität Bremen und zwölf Institute der bundländerfinanzierten außeruniversitären Forschung. Die Zusammenarbeit erstreckt sich über vier Wissenschaftsschwerpunkte und somit „Von der Tiefsee bis ins Weltall“. Das Wissenschafts-Magazin Impact gibt zweimal im Jahr spannende Einblicke in das Wirken der kooperativen Forschung in Bremen.

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