Der nachhaltige Wert der Sorgearbeit
Dr. Sonja Bastin und ihr Engagement für die Anerkennung von Care-Arbeit
Ob als Kind, als Älterer oder bei Erkrankungen: Rund ein Drittel unseres Lebens sind wir auf die Fürsorge anderer angewiesen. Vor allem Frauen leisten diese Sorgearbeit. Die Familiensoziologin Dr. Sonja Bastin setzt sich für eine breite gesellschaftliche Anerkennung und mehr Chancengleichheit für die Care-Arbeitenden ein.
Noch immer wird sie gelegentlich auf die Auszeichnung angesprochen. Vor mehr als zwei Jahren, im März 2021, wurde Sonja Bastin vom Landesfrauenrat für ihre Forschung zur Care-Arbeit als „Bremer Frau des Jahres“ geehrt. „Das“, erinnert sie sich, „hat mich auch deshalb aufrichtig gefreut, weil es dem Thema mehr Aufmerksamkeit verschafft hat.“
Wohl wenige Wissenschaftler:innen in Bremen haben sich so intensiv und engagiert mit der Fürsorgearbeit auseinandergesetzt wie die 39-Jährige. Das Sich-Kümmern um Andere, die Arbeit in und an der Familie, die Erziehung und Pflege sind für sie ein wichtiger Bestandteil einer nachhaltigen Gesellschaft. „So, wie wir ohne eine gesunde Umwelt nicht leben können, können wir auch nicht ohne Care-Arbeit existieren. In beiden Systemen sind die Ressourcen bedroht, beide befinden sich in einer Krise.“
Unbezahlte Care-Arbeit wird weit überwiegend von Frauen ausgeübt und ihr Wert taucht in keiner gesamtwirtschaftlichen Bilanz auf. Wer Sorgearbeit leistet, trägt viel Verantwortung, bekommt wenig Wertschätzung und hat mit finanziellen und beruflichen Nachteilen zu kämpfen. Für Viele wurde die prekäre Situation von Sorgedienstleistenden besonders während der Corona-Pandemie sichtbar. „Unsere Forschungsergebnisse zeigen, dass gerade Mütter seit Beginn der Pandemie und darüber hinaus weniger Vertrauen in die Politik äußern. Dies kann mit negativen Auswirkungen auf die Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt einhergehen.“
„So, wie wir ohne eine gesunde Umwelt nicht leben können, können wir auch nicht ohne Care-Arbeit existieren.“
Zwar versuchen eine Reihe von Einzelmaßnahmen etwa zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf die Situation zu verbessern. Aus Sicht von Bastin fehlt aber ein systematischer Ansatz. So sei eine Frauenquote gut und schön, aber mit ihr kämen nicht unbedingt auch Mütter in führende Positionen, die selbst Care-Arbeit leisten und Politik und Wirtschaft auf Basis dieser Erfahrungen mitgestalten würden.
Was ist uns welche Arbeit wert? Darüber müsse eine gesellschaftliche Debatte geführt werden, meint Bastin. „Es sind tiefgreifende Veränderungen in unserem Verständnis von Wirtschaft notwendig.“ Als Beispiel führt sie die Einführung einer Vier-Tage-Woche an, damit genügend Zeit für Fürsorgearbeit und gemeinnützige Tätigkeiten bleibt. Nur wer dieser nachgeht, solle auch den vollen Lohnausgleich erhalten.
Bastin unterstützt die Initiative „Equal Care Day“. An der Universität Bremen war sie eine der Initiator:Innen des Projektes „carat- caring all together“. Ziel der Veranstaltungsreihe, für die Bürgermeister Dr. Andreas Bovenschulte die Schirmpatenschaft übernommen hat, ist es, Menschen aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und der Care-Arbeit zu vernetzten und Lösungen ins Bewusstsein zu rücken.
Ihr Engagement für die Sorgearbeit hat auch eine biographische Komponente. Aufgewachsen in Stade hat sie als älteste von vier Geschwistern selbst früh Verantwortung übernommen. Die Nähe zu ihrer Familie war ein Grund, weshalb sich Sonja Bastin für ein Studium an der Universität Bremen entschied, Soziologie und Sozialforschung, als Bachelor und Master. Nach ihrer Promotion am Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock kehrte sie nach Bremen zurück.
Und zwar als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Arbeit und Wirtschaft und schließlich an das Institut, an dem sie schon als studentische Hilfskraft gewirkt hat: an das SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik. „Die empirische Sozialforschung ist stark in Bremen“ meint sie und hebt auch den internationalen Austausch im Rahmen der BIGSSS hervor, der Bremen International Graduate School of Social Sciences.
Dennoch hat die Mutter dreier Kinder kürzlich die Uni verlassen. „Das war nicht ausschließlich eine freie Entscheidung“, räumt sie freimütig ein und verweist auf ihre unsichere berufliche Perspektive als Wissenschaftlerin bedingt durch Zeitverträge. „Eine erneut befristete Vertragsverlängerung ohne reelle Zukunftsaussichten wollte ich nicht.“
Auch für den Wissenschaftsbetrieb gelte: Je höher in der Hierarchie, desto weniger Mütter seien dort vertreten. „Wir sollten uns fragen: Wie weit schaffen es Menschen mit Care-Verantwortung in unseren Strukturen?“, meint Bastin. „Und haben wir wirklich schon alles getan, um Chancengleichheit herzustellen?“
Seit August 2023 ist sie Referentin für Sozialraumentwicklung an der Behörde für Arbeit, Soziales, Jugend und Integration. Bereits als Wissenschaftlerin hat sie gerne angewandt gearbeitet. „Hier kann ich mein Wissen in die Umsetzung bringen“, sagt sie. „Das ist etwas, was ich sehr begrüße.“