Die Revolution im Stall
Die Historikerin Dr. Veronika Settele hat die Entwicklung der deutschen Landwirtschaft von 1945 bis 1990 untersucht
„Revolution im Stall: Landwirtschaftliche Tierhaltung in Deutschland 1945-1990“ heißt die Dissertation der Historikerin Dr. Veronika Settele, die an der Universität Bremen im Institut für Geschichtswissenschaft („Neuere und Neueste Geschichte“) arbeitet. Ihre Arbeit dreht sich um die Entstehung sowohl der Massentierhaltung als auch der gesellschaftlichen Kritik daran und wurde mit dem Deutschen Studienpreis 2020 ausgezeichnet. Zudem erhielt sie den Opus-Primum-Preis der Volkswagen-Stiftung für die beste wissenschaftliche Nachwuchspublikation 2020.
Frau Settele, Sie haben die Entwicklung der Landwirtschaftlichen Tierhaltung von 1945 bis 1990 untersucht. Wie sind Sie auf das Thema gekommen?
Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass die Untersuchungen von Mensch-Tier-Beziehungen zu einem kulturwissenschaftlichen Forschungsfeld wurden. Da wurde viel zu Pferden oder Haustieren geforscht, aber kaum zu landwirtschaftlich genutzten Tieren. Dabei spielen die in unserer Gesellschaft politisch und ökonomisch eine sehr große Rolle. Weil die Massentierhaltung immer stärker politisiert und diskutiert wurde – Tierwohl, Fleischkonsum, vegane Lebensstile usw. – interessierte mich das Thema immer mehr.
Ihre Untersuchung beginnt 1945. Damals standen Schweine, Rinder und Geflügel sicher noch rund um den Hof – im Sommer im Freien, im Winter im Stall?
Mit Rinder/Schweine/Hühner sind die wichtigsten Sparten genannt. Die Tierhaltung war damals noch viel weniger spezialisiert als heute. Und sie fand in der Nachkriegs-Mangelzeit statt – der Mangel in der Gesellschaft galt auch im Stall. Es fehlte an Futter und gut gelüfteten trockenen Ställen, in denen die Tiere nicht krank wurden. Oft herrschten in den Ställen prekäre Zustände: Die Tiere vegetierten vor sich hin, wurden im Winter schlecht gefüttert, und die Tierhaltung war noch wenig professionalisiert. Mangel bedeutete: Wenn es den Menschen schlecht ging, galt das erst recht für die Tiere.
Wie und von wem wurden die Tiere versorgt? Viele „Bauernburschen“ kamen nicht aus dem Krieg zurück, und die zwangsverpflichteten Fremdarbeiterinnen und Fremdarbeiter gingen nach dem Kriegsende nach Hause zurück.
Dafür gab es eine große Zahl von Flüchtlingen, und die wurden vor allen Dingen auf dem Land untergebracht, viele Städte waren zerbombt. Diese Leute wurden aber auch gebraucht: Die Tierhaltung war damals sehr, sehr arbeitsintensiv und die Arbeit nicht sonderlich attraktiv. Das wird heute manchmal romantisiert und idealisiert, etwa das Melken der Kuh mit der Hand. Wenn man aber zweimal am Tag mehrere Kühe mit der Hand melken muss, ist das unglaublich anstrengend. Es wurde von frühmorgens bis spätabends geschuftet, und die Löhne waren sehr niedrig, meist eine Mischung aus Kost, Logis und wenig Geld.
Wie entwickelte sich die deutsche Landwirtschaft in der Zeit des „Wirtschaftswunders“?
Sie wurde durch zunehmenden Arbeitskräftemangel geprägt. Durch das Wirtschaftswunder entstanden sehr viele attraktivere Arbeitsplätze, sauberer und besser entlohnt. Die Schicht der „besitzlosen Landarbeiterinnen und Landarbeiter“, die es vorher Umfeld der Höfe gab und die einfach irgendwie immer dazugehört hatten, nahm plötzlich stark ab.
„Wenn Frauen überzählige Eier auf dem Markt verkauften, war dieses ,Eiergeld‘ oft ihr Taschengeld.“
Welche Rolle spielte die technologische Entwicklung in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg?
Der Arbeitskräftemangel war ein zentraler Motor für die Technisierung der Landwirtschaft. Aber das ging nicht von hier auf gleich – die landwirtschaftliche Branche ist von einer starken Trägheit gekennzeichnet. Das ist nicht meine Meinung, sondern lässt sich anhand der Quellen belegen. Innovationen wie zum Beispiel eine Melkmaschine oder Futterautomaten wurde zunächst skeptisch begegnet. Zu teuer, zu schwer zu reinigen, tut den Tieren nicht gut – usw. Dabei war sowohl der politische Wille da als auch der Rat von Agrarexperten, die Tierhaltung effizienter zu gestalten. Letztlich war die Technisierung nicht aufzuhalten.
Wann wurde Landwirtschaft endgültig zu einer Industrie?
Für „die Landwirtschaft“ generell kann man das nicht sagen. Aber für die Geflügelwirtschaft beispielsweise. Die war lange Zeit in der Hand von Frauen, oft als eine Art „weiblicher Nebenerwerb“. Hühner wurden zur Eigenversorgung gehalten, und wenn die Frauen überzählige Eier auf dem Markt verkaufen, war dieses „Eiergeld“ oft ihr Taschengeld. Zwischen 1963 und 1968 wurde dann aber eine Industrie daraus. Neue automatisierte Techniken – Legebatterien oder eine konzentrierte Bodenhaltung – wurden aus den USA importiert und nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen betrieben. Eier und Geflügelfleisch konnten ganzjährig günstig produziert werden.
Wie erging es den Tieren bei diesem Wandel? War die ursprüngliche „nichtindustrielle“ Tierhaltung auf den Höfen tatsächlich artgerechter, wie man vielleicht aus heutiger Sicht annimmt? Und wie veränderte sich das Tierwohl im Laufe der Jahrzehnte?
Für die Tiere kann ich das nicht beantworten, weil ich keine Verhaltensbiologin bin. Für den Umgang der Menschen mit den Tieren hatte ich für die Zeit nach dem Krieg bereits in Mangel erwähnt. Wie Geld für bessere Ställe ausgeben, wenn es nicht mal für Schuhe für die Kinder reicht? Allerdings begreifen sich landwirtschaftliche Tierhalter generell als verantwortungsvolle Menschen, die gut mit den Tieren umgehen wollen – Tierquälerei wurde stets verpönt und geahndet. Interessant ist die Ansicht, dass es dem Tier gut geht, solange es Eier legt, die Muskeln wachsen oder genug Milch gegeben wird. Erst Ende der 1970er-Jahre fand die Verhaltensbiologie mehr Gehör, die sagte, dass das nicht zwingend so ist.
Wann gab es die ersten Proteste gegen die Massentierhaltung mit dem Fokus auf das Tierwohl – und wie haben sich diese im Laufe der Zeit entwickelt?
Das fing Ende der 1960er-Jahre an, als große Geflügelställe mit Käfighaltung neu gebaut wurden. Richtig Fahrt nahmen die Proteste dann in den 1970er-Jahren auf. Bis in die 1990er-Jahre kreiste die ganze Tierwohldebatte aber primär um die Hühner im Käfig. Heute stehen ja eher die Schweine im Fokus, obwohl auch die Bullenmast nicht schön anzusehen ist.
„Die Tierkörper sind in der Lage, in immer kürzeren Zeiträumen die Waren zu liefern, die Konsumgesellschaft haben will.“
Sonderfall DDR: Hier wurde die Landwirtschaft viel massiver staatlich gesteuert. Was lief dort anders als in der Bundesrepublik, und welche Bedeutung hatte es für das Land bis 1990?
Tiere, die einem nicht gehörten – wie die in den landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften – waren in der DDR generell in einem schlechteren Zustand als Tiere in der in kleinem Maßstab erlaubten privaten Haltung. Ansonsten habe ich herausgefunden, dass die Ähnlichkeiten in dieser Frage zwischen Bundesrepublik und DDR größer sind als gedacht. Wenn man gezielt Unterschiede sucht, findet man sie natürlich – aber was die Arbeitsschritte oder die Technisierung angeht, gibt es deutliche Parallelen. Was natürlich in der DDR da war, war der direkte Arm des Staates in den Stall. Entscheidungen wurden mitunter nach politischen Vorgaben gefällt und nicht nach landwirtschaftlichem Sachverstand.
Ihr Forschungsarbeit beleuchtet die Zeit bis 1990, aber Sie werden sicher auch die weitere Entwicklung in der Landwirtschaft in den nachfolgenden 30 Jahre bis heute verfolgt haben. Was kennzeichnet diesen Zeitraum?
Eine Fortentwicklung der bis 1990 eingeschlagenen Bahnen. Die körperliche Optimierung der Tiere – die Branchen nennt es „Zuchtfortschritt“ – nimmt weiter zu. Die Tierkörper sind in der Lage, in immer kürzeren Zeiträumen die Waren zu liefern, die Konsumgesellschaft haben will. Auch die betriebswirtschaftliche Rentabilität der Betriebe hat durch neue Technisierung und immer größere Ställe weiter zugenommen. Auf der anderen Seite haben wir eine gesellschaftliche Tierwohl-Bewegung, die erst in der jüngsten Vergangenheit richtig Dynamik aufnahm. Anders als 1990 gibt es heute auch alternative Formen der Tierhaltung, die langsam immer mehr Bedeutung bekommen. Allerdings sehe ich da noch sehr viel Luft nach oben. Rhetorisch ist das bisher eine größere Sache als in der Realität.