Ist unsere Demokratie in Gefahr?
Gerade ist häufig von einer „Krise der Demokratie“ die Rede. Aber stimmt das wirklich?
Der Politikwissenschaftler Philip Manow hat sich mit dem Populismus ebenso intensiv beschäftigt wie mit Grundfragen zur Demokratie. Ihn interessiert vor allem die Frage, wie sie sich weiterentwickelt und was sie bedroht. Sein Fazit: Nicht die Demokratie wird bedroht, sie bedroht sich selbst: Durch eine immer weitere „Demokratisierung“ stellt sie zugleich ihre eigenen Institutionen in Frage. Manow ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bremen und leitet am SOCIUM die Arbeitsgruppe Vergleichende Politische Ökonomie. Christina Selzer hat ihm Fragen gestellt.
Sie vertreten die These, dass wir gerade gleichzeitig die „Demokratisierung“ der Demokratie und die „Entdemokratisierung“ der Demokratie erleben. Das klingt paradox. Was meinen Sie damit?
Ich meine damit, dass wir alle momentan von der Gefährdung der Demokratie sprechen – also von Ent-Demokratisierung – und das meistens mit bestimmten Namen verbinden, Trump, Modi, Erdogan, Putin und so weiter, aber dabei mehrere Aspekte übersehen. Erstens, dass weiterhin gilt, was nach 1990 allgemein konstatiert wurde – zur Demokratie als politischer Herrschaftsform gibt es heute keine legitime Alternative mehr. Das führt unter anderem dazu, dass die neuen Herrscher sich auch alle auf ‚die‘ Demokratie berufen. Dass, zweitens, die Demokratie auch faktisch-institutionell – zumindest in langfristiger historischer Betrachtung – so unumschränkt herrscht wie nie zuvor seit der Französischen Revolution 1789. Und dass drittens, was die neuen Partizipations- und Kommunikationsmöglichkeiten anbetrifft, wir eine ganz außerordentliche Demokratisierung der Demokratie erleben. Jeder kann in den politischen Kommunikationsraum eintreten. Politisches Kollektivhandeln ist heute so einfach und ‚billig‘ zu organisieren wie noch nie. Daher meine These, dass unsere Wahrnehmung einer Krise der Demokratie präziser eigentlich auf eine Krise der eingespielten Verfahren politischer Repräsentation verweist, und dass diese Krise der Repräsentation sich vor allem aus der gegenwärtigen Demokratisierung der Demokratie erklärt.
Orban, Trump, Erdogan – markieren diese Namen nicht eine tiefe Krise der Demokratie?
Wie gesagt, Orban und Trump markieren in meinen Augen eher eine Krise der Repräsentation als eine der Demokratie – dass das eine kontroverse Einschätzung ist, die von den meisten nicht geteilt wird, ist mir bewusst. Ich denke aber, weder die Ungarn noch die US-Amerikaner sind in ihrer Mehrheit dafür, zukünftig politisch entmündigt zu werden. Eine Abschaffung der Demokratie ist kein mehrheitsfähiges politisches Projekt, und einen gewalttätigen Putsch werden wir weder in den USA noch in Ungarn sehen. Zunächst sind sowohl Trump und Orban demokratisch legitimiert, Orban sogar mehrfach. Dass beide eine populistische Strategie verfolgen, die dauernd mit den konstitutionellen Grenzen der Demokratie spielt, steht dem nicht entgegen. Bei Erdogan mag die Lage etwas anders aussehen, vor allem was die Verfolgung der politischen Opposition angeht – aber vielleicht sollte man auch hier im Auge haben, dass noch vor kurzem die wesentlichen Entscheidungen in der Türkei von einem Militärrat abhängig waren. Zunächst einmal hat die Regierungspartei von Erdogan – die AKP – die Türkei sicherlich demokratisiert, auch wenn wir jetzt den Rückfall in autokratische Verhältnisse sehen.
Durch Parteienkrisen und Medienwandel gibt es Chancen für Außenseiter wie zum Beispiel Trump. Ist das die Gefahr für die Demokratie, die von ihr selbst ausgeht?
Ja – so lautet zumindest eine der Hauptthesen meines Buches. Eine demokratischere Demokratie ist nicht automatisch eine bessere, schon gar nicht eine besser funktionierende Demokratie. Demokratie braucht geregelte Verfahren, der demokratische Impuls muss in Bahnen gelenkt, moderiert, kanalisiert werden. Das erledigte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert die Repräsentation durch Parteien. Deren Krise wird damit auch zu einer Krise der repräsentativen Demokratie.
Sie sagen, zur Demokratie gehöre die Unsicherheit darüber, ob wir überhaupt noch in einer Demokratie leben. Gibt es keine klar definierte „rote Linie“ zwischen Demokratie und Nicht-Demokratie?
In einem minimalistischen Verständnis von Demokratie gibt es eine ganz klare Linie – sie ist dann überschritten, wenn ein Amtsinhaber, der eine (faire) Wahl verliert, nicht das Amt räumt. Das andere Szenario ist natürlich, dass die Wahlen von vornherein nicht fair sind. Das Problem: das weiß man immer erst hinterher. Insofern ist die demokratische Unsicherheit eine Grundkonstante der Demokratie (nicht natürlich der Diktatur, dort herrscht keine Unsicherheit: man weiß, dass der Machthaber sich freien Mehrheiten nicht unterwerfen will und wird).
Eine Herausforderung für die Demokratien ist der Populismus: Die Berufung auf ein homogenes Volk gepaart mit Kritik an den angeblich oder tatsächlich korrupten Eliten – ist solch ein Populismus nicht per se undemokratisch?
Ich denke nein. Viel käme auf den Begriff ‚homogen‘ an. Wenn darunter irgendeine Art von Ethnonationalismus gemeint ist, wäre das ein Bruch mit dem demokratischen Gleichheitsprinzip und also undemokratisch. Wenn das die Anrufung eines kollektiven ‚Wir‘ ist, die auf die Mitglieder eines politischen Verbundes zielt, also auf die Staatsbürger, dann nicht. Viel in dem populistischen Diskurs der Gegenwart spielt natürlich mit den Unschärfen, die hier unweigerlich entstehen. Für Verteidiger der Demokratie sollte sich meines Erachtens allerdings eher die Frage stellen, warum dieser Diskurs momentan so verfängt, anstatt andauernd pauschale Exkommunizierungen auszusprechen.
Wann wird der Populismus zur Bedrohung für die Demokratie? Wird er zu wenig ernst genommen oder gibt man ihm zu viel Raum?
In dem Buch vertrete ich ja die erneut etwas ketzerische These, dass der Populismus nicht das eigentliche Problem der – repräsentativen – Demokratie ist, sondern dass er lediglich anzeigt, dass sie eines hat. Man sollte also nicht andauernd Ursache und Wirkung verwechseln, auch wenn das für diejenigen, die es sich im Status quo ganz gemütlich eingerichtet haben, sehr verlockend ist. Ich schlage also vor, dass man sich nicht dauernd mit den Wirkungen beschäftigen sollte, also mit den Populisten, sondern mit den Ursachen: Warum funktioniert die repräsentative Demokratie nicht mehr so, wie sie das zwischen 1950 und – sagen wir – 1990 getan hat?
Die neuen Partizipationsmöglichkeiten – Bürgerinitiativen, Petitionen, Volksabstimmungen – können demokratische Institutionen, wie Parteien und Staat, in eine Krise stürzen. Heißt das, dass es „zuviel“ Demokratie geben kann?
Ja. Soll Demokratie funktionieren, braucht sie einfache und generalisierbare, universale Verfahren: Wahlen. Und funktionierende Organisationen, die in diesen Wahlen den Wählern strukturierte Angebote machen. Das kann man nicht mit tausenden von town-hall meetings ersetzen.
Bedeutet das Internet beziehungsweise Social Media das Ende der Parteien?
Das Ende vermutlich nicht. Aber sie sehen sich mit enormen Herausforderungen konfrontiert und ihre ursprünglich hegemoniale Stellung ist – vielleicht unwiderruflich? – dahin. Vieles des politischen Prozesses und der politischen Kommunikation läuft jetzt nicht mehr über sie, sondern über sehr viel fluidere, ephemere Formen politischen Kollektivhandelns, durch Bewegungen sehr spontaner Art und durch einen völlig unkontrollierten, unmoderierten Diskurs im Netz. Die Parteien, bislang zumindest, sind zu recht hilflosem Reagieren auf diese Entwicklungen verurteilt.
Von Philip Manow erschien in diesem Jahr das Buch „(Ent-) Demokratisierung der Demokratie“.