Erklär mal, Prof: Der kälteste Ort des Universums
Wieso, weshalb, warum? In „Erklär mal, Prof" verraten euch Forschende, warum sie das tun, was sie tun. Dieses Mal: Wie in Bremen der kälteste Ort des Universums entstand.
Im Jahr 2018 war Bremen für zwei Sekunden der kälteste Ort des Universums. Genauer gesagt stellte eine etwa mannshohe Forschungskapsel im Fallturm des Zentrums für angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation (ZARM) diesen Rekord auf. Es war ein großer Erfolg für die Bremer Doktorandin Merle Cornelius und die weiteren Mitglieder des Forschungsverbundprojekts „QUANTUS“. Doch eigentlich ging es den Forschenden um etwas ganz Anderes.
Wir befinden uns im Jahr 2018 nach Christus, genauer gesagt im Monat August. Ganz Bremen ist von Temperaturen zwischen 17 und 28 Grad besetzt. Ganz Bremen? Nein! Eine unbeugsame Forschungskapsel im Zentrum für angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation (ZARM) an der Bremer Universität hört nicht auf, immer kälter zu werden.
Physik-Doktorandin Merle Cornelius und ihre Teamkollegen im Projekt „QUANTUS“ – Christian Deppner, Waldemar Herr, Julia Pahl und Peter Stromberger – sind fasziniert. Mittlerweile geht es um Bereiche, vor denen ein herkömmliches Thermometer längst kapituliert hat. Kurze Zeit später steht fest: Sie haben einen Kälterekord aufgestellt. Ihr Experiment lag für einen Moment bei 38 Pikokelvin. Das sind nur 38 Billionstel Grad über dem absoluten Nullpunkt. Knapp drei Jahre später veröffentlichen sie ihren Erfolg in den Physical Review Letters.
Fürs Thermometer nicht messbar
Der Kälterekord ist mit herkömmlichen Temperaturmessgeräten nicht zu erfassen. Er ergibt sich allein dadurch, dass sich die beobachteten Atome extrem langsam bewegen. Denn Temperatur ist physikalisch gesehen ein Ausdruck für die Bewegung von Teilchen. Alle Atome oder Moleküle haben eine Eigenbewegung, und diese Eigenbewegung wird immer langsamer, je kälter es wird. Der absolute Nullpunkt ist der Zustand, in dem die Teilchen in absoluter Ruhe verharren. Er ist nur theoretisch erreichbar. Das QUANTUS-Team war allerdings ziemlich nah dran!
Wie haben Merle Cornelius, Christian Deppner, Waldemar Herr, Julia Pahl und Peter Stromberger die Teilchen dazu gekriegt, sich so extrem langsam zu bewegen? Das Ganze passierte in einem ultrakalten Gas – einem sogenannten Bose-Einstein Kondensat (BEK). „In einem BEK bilden die einzelnen Atome in einer Atomwolke gewissermaßen eine einzige zusammenhängende Materiewelle“, erklärt Merle Cornelius. Diese Atomwolke wollen die Forschenden so lange wie möglich erhalten, denn sie ermöglicht es überhaupt erst, genaue physikalische Messungen durchzuführen.
Atome wollen sich ausdehnen
Die Schwierigkeit dabei: Obwohl das BEK schon extrem kalt ist, hat es immer noch eine geringe innere Energie, die die Atome auseinandertreibt. Die Atomwolke zerfällt also nach kurzer Zeit. „Im Labor können wir sie nur 22 Millisekunden beobachten, aber das ist viel zu kurz für die angedachten Experimente“, erklärt Cornelius.
Die Lösung lag dann allerdings recht nah. Genauer gesagt steht sie am Rande des Bremer Campus: Der Fallturm. Er ermöglicht seit gut 30 Jahren Experimente in der Schwerelosigkeit. Im Fallturm konnten die Forschenden die Atomwolke so manipulieren, dass sie sich viel langsamer ausdehnt. „Wir haben es geschafft, die Atomwolke zwei Sekunden zu halten, das ist extrem lang“, sagt Cornelius stolz.
Genau genommen ging es bei dem Experiment im Fallturm also nicht um einen Kälterekord, sondern um die sich am langsamsten ausbreitende Atomwolke der Welt. Der Kälterekord war also ein klassisches Nebenprodukt von Forschung. Trotzdem ist es „irgendwie cool“, findet Merle Cornelius. Selbst wenn es physikalisch nicht korrekt sei, vom kältesten Ort des Universums zu sprechen, weil einem BEK keine Temperatur zugeordnet werden könne. „Dennoch ist es ein wichtiger Schritt, um jetzt darauf aufzubauen“, stellt die Forscherin klar. Beispielsweise könnte die Zeit, die die Atomwolke hält, weiter ausgedehnt werden, indem die Experimente auf der Internationalen Raumstation ISS oder auf einem Satelliten durchgeführt werden. „Bis zu 17 Sekunden sollten da drin sein.“
Ein uralter Konflikt
Und was war jetzt nochmal das Tolle an dieser Atomwolke? Kurz gesagt: Mit ihrer Hilfe lassen sich sehr empfindliche Messinstrumente bauen, sogenannte Interferometer. Diese Interferometer ermöglichen unter anderem eine extrem genaue Navigation, beispielsweise in der Schifffahrt Und sie könnten in der Zukunft viel genauere Messungen, zum Beispiel des Erdschwerefelds ermöglichen. „So könnte unter anderem ermittelt werden, wie viel Masse an Eis die Pole genau verlieren. Es könnten auch Veränderungen des Grundwassers detektiert werden“, erläutert Cornelius.
Ein weiteres Einsatzfeld der Interferometer: Sie können für Tests fundamentaler physikalischer Theorien verwendet werden. Unter anderem gibt es da einen uralten Konflikt zwischen Quantenmechanik und Relativitätstheorie. Es geht darum, wie universell der freie Fall denn nun wirklich ist. Auch zur Klärung dieser physikalischen Streitfrage könnten die QUANTUS-Forschungen einen entscheidenden Beitrag leisten.
Weitere Informationen:
Das Projekt „QUANTUS“ ist ein DLR-Verbundprojekt. Neben dem ZARM sind Forschende der Leibniz Universität Hannover, der Humboldt-Universität zu Berlin sowie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz beteiligt. Das Projekt wird durch das Centre for Quantum Engineering and Space-Time Research (QUEST) sowie die Deutsche Exzellenzstrategie „EXC 2123 Quantum-Frontiers“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützt.
Mehr Informationen zum Bremer Fallturm gibt es auf der Webseite des ZARM.