Arndt Wonka: „Bei der Europawahl 2024 steht einiges auf dem Spiel“
Der Bremer Politikwissenschaftler Arndt Wonka über die Bedeutung des Europäischen Parlaments, das am 9. Juni gewählt wird
Am 9. Juni ist Europawahl: Die Bürger und Bürgerinnen der 27 EU-Staaten sind dann aufgerufen, ihre Abgeordneten in das Europäische Parlament zu wählen. Warum ist das überhaupt wichtig? up2date. im Gespräch mit Professor Arndt Wonka vom Institut für Europastudien der Universität Bremen.
Warum ist die Europawahl wichtig?
Weil das EU-Parlament die Institution der EU ist, die unmittelbare Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger in deren Mitgliedstaaten ermöglicht. Das ist für uns der direkteste Weg, um europapolitisch unseren Wünschen und Forderungen Ausdruck zu verleihen. Das EU-Parlament erfüllt nicht nur symbolische Funktionen, sondern ist eine machtvolle Institution, die die EU-Politik maßgeblich prägt.
Die EU und die Europawahlen sind aber für viele nicht so konkret greifbar
Das stimmt. Ein Versuch das zu ändern, ist das System der Spitzenkandidaten. Die Spitzenkandidaten sind in den Staaten, aus denen sie kommen, meist relativ bekannt, in den anderen eher unbekannt. Der erhoffte Effekt, dass es eine Erkennbarkeit gibt, möglicherweise eine Identifikation, die für die Wahlen mobilisierend wirkt und so ein klassischer Wahlkampf entsteht, erfüllt sich allerdings nur bedingt. Ein weiterer Grund ist ganz sicher, dass viele Abgeordnete des EU-Parlaments den Bürgerinnen und Bürgern nicht vertraut sind. EU-Politik geschieht, auch räumlich, relativ weit entfernt. Außerdem betreffen die Themen, die auf europäischer Ebene behandelt werden, uns oft nicht so unmittelbar wie Steuern, Rente, Bildungs- oder Verteidigungsausgaben, die im Bundestag beschlossen werden. Die Relevanz der EU lässt sich für Bürgerinnen und Bürger somit schwerer fassen.
Mit welchen Themen befasst sich das EU-Parlament?
Ein wichtiger Bereich ist die Ausgestaltung des EU-Binnenmarktes, also des gemeinsamen Wirtschaftsraumes. Für diesen Binnenmarkt erlässt die EU Regeln oder Umwelt- und Verbraucherstandards, die Produkte erfüllen müssen. Sie beschließt auch soziale Mindeststandards, etwa beim Arbeitsschutz. Das EU-Parlament setzt außerdem den Rahmen für die Asylpolitik und es entscheidet über die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten. Wenn beispielsweise die Entscheidung über die Aufnahme der Ukraine getroffen werden soll, kann das EU-Parlament darüber auch mitbestimmen.
Ist die EU-Kommission denn überhaupt eine demokratische Einrichtung? Eine Regierung ist sie ja nicht, sie ist auch nicht von einer Opposition abwählbar, die EU-Kommissionspräsidentin, Frau von der Leyen, stand auf keinem Wahlzettel.
Das stimmt, Frau von der Leyen war bei der letzten Wahl keine Spitzenkandidaten und sie stand auf keinem Wahlzettel. Sie kandidiert auch in diesem Jahr nicht für das Europaparlament. Sie wurde jedoch im März in Bukarest von den christdemokratischen Parteien der Mitgliedstaaten als Spitzenkandidatin für den Posten der Kommissionpräsidentin ernannt. Sie wurde jedoch im Einklang mit den Verträgen gewählt. Die EU-Verträge sehen vor, dass die Staats- und Regierungschefs der EU die Komissionspräsidentin auswählen, das Europaparlament kann dieser Wahl zustimmen oder sie ablehnen. Ich bin der Auffassung, dass der Beitrag des Spitzenkandidaten-Modells zur demokratischen Legitimierung der EU politisch überschätzt wird. Problematisch finde ich außerdem, dass bei vielen Bürgerinnen und Bürgern der Eindruck entsteht: Wenn die Spitzenkandidatin ernannt wird, setzt diese Person das Programm ihrer Parteifamilie wirksam durch. Aber das ist auf EU-Ebene nicht der Fall. Das europäische politische System ist überhaupt nicht auf politischen Wettbewerb angelegt, sondern auf Kompromiss. Die Spitzenkandidaten-Vorstellung läuft dem zuwider. Es besteht die Gefahr, dass Erwartungen bei Bürgern geweckt werden, die nicht erfüllt werden können. Frau von der Leyen führt keine Regierung an, in der sie eine klare Richtlinienkompetenz hat. Sie muss mit Kommissaren aus verschiedenen Mitgliedstaaten arbeiten, die aus unterschiedlichen Parteien stammen und dieses Kollegium zusammenhalten.
Ist die Europawahl für die viele Wähler:innen auch eine Gelegenheit, mal den allgemeinen politischen Unmut loszuwerden?
Ja, es ist politikwissenschaftlich gut belegt, dass Europawahlen von einem Teil der Wähler genutzt werden, um der Regierung einen Denkzettel zu verpassen. Bürgerinnen und Bürger schreiben der EU-Politik eine geringere Bedeutung zu als der nationalen Politik. Bei der Wahl tendieren Sie auch deshalb dazu, Parteien zu wählen die zu dem Zeitpunkt nicht Teil der nationalen Regierung sind. Und kleine Parteien, die sie in nationalen Wahlen nicht wählen würden, weil sie absehbar nicht viel Einfluss im Parlament haben werden. Parteien in den Mitgliedstaaten sprechen im Europawahlkampf auch häufig über nationale Themen, die von der EU nicht behandelt werden können, was den Effekt verstärkt. Es wäre wichtig, dass Parteien in den Mitgliedstaaten die Herausforderungen, vor denen die Europäische Union steht, offen und gegebenenfalls kontrovers diskutieren. Und dass sich Wählerinnen und Wähler auf dieser Grundlage ein Bild von der EU machen und dann die Europawahl nutzen, um ihrer jeweiligen politischen Vorstellungen von der EU Ausdruck zu verleihen.
Vor welchen Herausforderungen steht die EU und in welche Richtung sollte sie sich entwickeln?
Wir haben eine sehr heterogene Europäische Union mit teilweise großen ökonomischen und gesellschaftlichen Unterschieden zwischen den Mitgliedstaaten, die auch historisch bedingt sind. Diese Unterschiede kamen in der Eurokrise und während der Pandemie zum Ausdruck, auch im Hinblick auf die Handlungsmöglichkeiten der Staaten in diesen Krisen. Eine Forderung, die die Europapolitik in den kommenden Jahren stark prägen wird, ist die, ob die EU über mehr finanzielle Mittel verfügen sollte und diese Mittel auch selbst erheben darf. Hier gehen die Vorstellungen von moderaten linken und moderaten rechten Parteien weit auseinander, wobei bezüglich des Bedarfs von mehr Finanzmitteln relativ breite Einigkeit besteht. Der Finanzbedarf wird auch aktuell wieder bei der Unterstützung der Ukraine deutlich. Grob gesagt, befürworten linke Parteien, dass die EU die Möglichkeit bekommt, in einem gewissen Rahmen gemeinschaftliche Schulden zu machen, während rechte Parteien das ablehnen. Es ist außerdem sehr wahrscheinlich, dass im neu gewählten Europäischen Parlament wesentlich mehr Abgeordnete rechtsradikaler und rechtspopulistischer Parteien sitzen werden. Die Organisation von parlamentarischen Mehrheiten zur, unter anderem, Gestaltung der Klimapolitik und auch der Demokratie- und Rechtsstaatspolitik wird anspruchsvoller werden und sind eine weitere Herausforderung. Schließlich wird die Entwicklung der EU immer auch von äußeren Faktoren bestimmt, die nicht vorhersehbar sind. Ein dramatisches Beispiel: Vor dem Angriff der russischen Armee auf das gesamte ukrainische Staatsgebiet im Februar 2022, stand ein Beitritt der Ukraine in näherer Zukunft nicht zur Debatte. Jetzt wird mit der Ukraine über einen Beitritt verhandelt. In welche Richtung sich die EU entwickeln sollte, ist eine politische Entscheidung. Das Europäische Parlament entscheidet mit. Bei der Europawahl 2024 steht somit einiges auf dem Spiel.
Weitere Informationen
Informationen zur Europawahl gibt Professor Arndt Wonka am 15. Mai in der Veranstaltung „Die Europawahl 2024 erklärt: Hintergründe, Parteien, Entscheidungen“ um 18 Uhr im EuropaPunktBremen, Am Markt 20. Interessierte sind herzlich Willkommen. Eine Voranmeldung ist nicht erforderlich.