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Schulschließungen: Digitalisierung als Chance in Zeiten der Corona-Krise

Freie Bildungsmaterialien und die dazugehörigen Infrastrukturen fordert der Bremer Bildungswissenschaftler Frank J. Müller

Uni & Gesellschaft

Müller ist an der Universität Bremen Juniorprofessor für Inklusive Pädagogik. Während einer Forschungsreise durch Norwegen hat er die in dem skandinavischen Land geschaffene Plattform „Nasjonal Digital Læringsarena“ und ihre positiven Wirkungen kennengelernt. Ohne Login und Download werden Bildungsinhalte zur Verfügung gestellt. Während der aktuellen Corona-Krise mit ihren Schulschließungen wäre das auch in Deutschland eine große Chance für den kontinuierlichen Bildungsprozess, meint Professor Müller. Einige Fragen an den Experten.

Herr Professor Müller, welche Probleme treten gerade auf?

Überlastete kommerzielle und zentralisierte staatliche Plattformen können vielfach der Zahl der neuen Nutzerinnen und Nutzer nicht gerecht werden oder werden durch zusätzliche Angriffe im Internet ausgeschaltet. Viele Lehrkräfte verschicken PDFs an ihre Schülerinnen und Schüler oder fotografieren Buchseiten ab. Doch eine große Zahl der Adressaten hat zu Hause keinen Drucker, stattdessen nur ein Smartphone zur Verfügung. Die Benachteiligung von Schülerinnen und Schülern aus Haushalten mit geringem kulturellem und ökonomischem Kapital wird dadurch weiter verstärkt. Hinzu kommt, dass kommerzielle Anbieter mit Probeangeboten locken und sich Kundendaten für die Zeit nach der Krise sichern. Wir stellen auch fest: Es reicht nicht aus, die Schulen mit iPads und WLAN auszustatten, sondern wir brauchen auch Inhalte und die Möglichkeit, sie so zu differenzieren, dass wir alle Schülerinnen und Schüler erreichen.

Wie muss man sich diese Lerninhalte vorstellen?

Für alle Schulstufen können das Lehrpläne, Lehrbücher, Lehrveranstaltungskonzepte, Skripte, Aufgaben, Tests, Projekte, Audio-, Video- und Animationsformate sein. Das Besondere dieser offenen Materialien mit freien Lizenzen ist, dass sie legal und kostenfrei vervielfältigt, verwendet, angepasst und verbreitet werden können. Diese hohe Individualisierbarkeit ist eine ideale Voraussetzung für heterogene Schülerschaft mit nach oben und nach unten offener Leistungsdifferenzierung.

Wenn die Materialien für alle frei zugänglich und veränderbar sind, wie sieht es dann mit den Urheberrechten aus?

Die veränderten Urheberrechte stehen unter einer besonderen Lizenz. Sie definiert, was erlaubt ist und was nicht. Für den Schulalltag sind weitergehende Lizenzen, die auf die Namensnennung verzichten, praktikabel. Lehrkräfte haben damit das Recht, Inhalte zu bearbeiten, sie an die Bedürfnisse der Lernenden anzupassen und sie dann weiter zu verbreiten.

Wie werden die Beiträge geschützt, damit nicht Unbefugte Zugriff erlangen und unerwünschte Veränderungen vornehmen können?

Beispiel Norwegen: Dort hat sich ein Markt entwickelt, auf dem überwiegend kleinere Firmen agieren, die bereit sind, den Bedarf nach qualitativ hochwertigen Materialien unter freier Lizenz zu bedienen. Die Plattform „Nasjonal Digital Læringsarena“ ist nicht vergleichbar mit Wikipedia. Auf die Hauptseiten hat nur ein Redaktionsteam Zugriff. Gleichzeitig haben Lehrkräfte die Möglichkeit, individuelle Lernpfade für ihre Schülerinnen und Schüler anzulegen. Das kann man sich wie eine Spotify-Playlist vorstellen.

Welche Vorteile haben die über die Plattform bereitgestellten Materialien für Lehrerinnen und Lehrer?

Die zunehmende Heterogenität in den Klassen ist eine Herausforderung für Lehrkräfte. Eine Plattform mit freien Materialien dient als Ausgangspunkt und hilft, neue Ideen im Team zu entwickeln. Der klassen-, jahrgangs- und schulübergreifende Austausch wird gefördert.

Die „Nasjonal Digital Læringsarena“ hat Frank J. Müller während einer Forschungsreise durch Norwegen kennengelernt. Sie könnte Vorbild für eine bundesweite Lernplattform sein.
Screenshot: https://ndla.no

Welche Chancen sehen Sie für Deutschland?

Von besonderer Wichtigkeit ist, Digitalisierung mit Inklusion zu verknüpfen. Wenn uns das nicht gelingt, schaffen wir uns über Jahre neue Probleme. Wenn alle Beteiligten an einem Strang ziehen und das Rad nicht immer wieder neu erfinden, sondern auf den Ideen von anderen aufbauen, dann haben wir eine Chance, gestärkt aus dieser Krise hervorzugehen.

Welche Schritte müssten als nächste eingeleitet werden?

Es gilt, die Vertreterinnen und Vertreter von Bildungspolitik und Verwaltung auf die Bedarfe an den Schulen aufmerksam zu machen. Qualitativ hochwertige Materialien unter freier Lizenz haben ihren Preis, aber wir sollten bereit sein, ihn zu bezahlen und damit eine umfassende und nachhaltige Nutzung zu ermöglichen.

Haben Sie eine Zeitvorstellung?

Die größte Hürde ist es, ein gemeinsames Vorgehen der Bundesländer zu organisieren. Sollte das gelingen, könnten wir in sechs Jahren Materialien für alle Jahrgänge und für alle Fächer zur Verfügung stellen. Die Reaktion auf Corona kann nicht sein, dass wir uns einigeln und uns nur noch um unser Land kümmern. Wir brauchen eine umfassende Kooperation aller Bundesländer, aber auch mit anderen Staaten, um freien Zugang zu Bildung nachhaltig und für alle zu gewährleisten.

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Pressemitteilung “Aus der Krise lernen: freie Bildung für Schulen”

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