Überläufer zwischen Nationalsozialismus und Nachkriegszeit
Forschende untersuchen ein bisher kaum beachtetes Stück Filmgeschichte
Über 1.200 Filme entstanden in Deutschland während der Zeit des Nationalsozialismus. Doch einige von ihnen konnten nicht fertiggestellt oder uraufgeführt werden und tauchten erst nach Kriegsende in den Kinos auf. Diese sogenannten Überläuferfilme untersuchen Forschende am Zentrum für Medien-, Kommunikations- und Informationsforschung (ZeMKI). Sie wollen wissen: Warum blieben die Filme unvollendet? In welchem Ausmaß findet sich in ihnen nationalsozialistische Propaganda? Und was geschah mit ihnen in der Nachkriegszeit?
„Bisher sind die Überläuferfilme kaum erforscht worden“, sagt Privatdozent Dr. Rasmus Greiner, Researcher für Filmwissenschaft. Gemeinsam mit Tatiana Astafeva, wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZeMKI, arbeitet er seit zwei Jahren in einem Forschungsprojekt zu dem Thema. Einen Grund für die Forschungslücke sehen die beiden im Genre der Filme: Bei etwa der Hälfte der rund 60 Überläuferfilme handelt es sich um Komödien mit Titeln wie „Spuk im Schloss“, „Fahrt ins Glück“ oder „Ein Herz schlägt für Dich“. Unter Filmforschenden sind diese Filme lange als unpolitisch und eskapistisch abgetan worden – im Gegensatz zu Propagandafilmen wie „Jud Süß“ oder „Kolberg“. Doch nachdem sich Mitte der 90er Jahre einzelne Filmwissenschaftler wie Karsten Witte und Steven Lowry auch mit Unterhaltungsfilmen im Nationalsozialismus beschäftigten, begannen diese Annahmen zu bröckeln.
Inwiefern auch Überläuferkomödien Elemente von Propaganda enthalten, das ist eine Frage, mit der sich Rasmus Greiner und Tatiana Astafeva beschäftigen. Daneben erforschen sie auch, wie die alliierten Zensurverantwortlichen mit den Filmen umgingen. Wurden sie im Nachhinein bearbeitet, zensiert oder unverändert aufgeführt? Und wie kamen sie beim Publikum der Nachkriegszeit an? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, sichteten die Bremer Forschenden alle Filme im Bundesarchiv und bei der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung. Darüber hinaus untersuchten sie unter anderem Filmrezensionen, Filmposter, Zensurkarten und Korrespondenz zwischen Produzent:innen, Regisseur:innen, Schauspieler:innen und Zensurbehörden. Förderung für ihr Projekt erhalten sie von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).
Warum Filme unvollendet blieben
Bei ihren Recherchen stellten die beiden Forschenden fest, dass die meisten Überläuferkomödien vor Kriegsende nahezu fertig waren. „Wir gehen in vielen Fällen davon aus, dass es eine Politik des Zeitschindens gab, um am Dreh beteiligte Personen vor dem Einsatz an der Front zu bewahren“, sagt Tatiana Astafeva. Im Bundesarchiv fand sie beispielsweise einen Brief, den ein Filmemacher des Operettenfilms „Die Fledermaus“ an den Reichsfilmintendanten schrieb. Die Musikproduzenten des Films sollten eine Unabkömmlichstellung (UK-Stellung) erhalten, schrieb er – und das, obwohl die Musikproduktion fast abgeschlossen war. Warum bereits fertige Filme vor Kriegsende nicht aufgeführt worden sind, darüber können Rasmus Greiner und Tatiana Astafeva in vielen Fällen nur mutmaßen. So etwa beim Film „Wie sagen wir es unseren Kindern“, der 1944 in Dresden gedreht wurde. Als der Film fertig war, lag die Stadt in Trümmern. „Hier vermuten wir, dass die NS-Behörden die Aufführung verzögerten, um nicht zusätzlich auf das Ausmaß der Zerstörung hinzuweisen“, sagt Rasmus Greiner.
Auch Komödien zeugten vom Krieg
„Die meisten Überläuferkomödien wurden mit dem Ziel gedreht, die Bevölkerung vom Kriegsgeschehen abzulenken und ruhigzustellen“, erläutert Rasmus Greiner. „Goebbels wies bereits in seiner Rede im Hotel Kaiserhof am 28. März 1933 auf die zerstreuende, eskapistische Funktion des Unterhaltungsfilms hin, die man nicht unterminieren wolle.“ Dennoch beobachteten die beiden Forschenden, dass der Kriegsalltag in vielen Filmen offen thematisiert wird. Etwa in „Vier Treppen rechts“: Die einander unbekannten Protagonisten Marianne Müller und Dr. Jürgen Wenter sind beide auf Wohnungssuche. Als ein Vermieter nur an Ehepaare vermieten will, geben sie sich kurzerhand als verheiratet aus. „Die Handlung mag auf den ersten Blick belanglos wirken, thematisiert aber die durch Bombardierungen verursachte Wohnungsnot“, sagt Tatiana Astafeva.
Auch durch den Krieg zerrüttete Familien werden in den Filmen sichtbar, etwa in „Wie sagen wir es unseren Kindern“. Hier wird im Laufe der Handlung deutlich, dass die beiden alleinerziehenden Hauptpersonen durch den Krieg und unter dem Einfluss von nationalsozialistischen Normen alleinstehend geworden sind. Dass solche Anspielungen in eigentlich eskapistischen Filmen vorkommen, überrascht Rasmus Greiner indessen nicht. Für eine Erklärung verweist er auf die Forschung des US-amerikanischen Kommunikationswissenschaftlers Stephen Lowry. „Lowry betonte, dass die nationalsozialistische Propaganda in den Überläuferkomödien nicht darin bestand, dass sie eine Parallelwelt fernab des Alltags der Bevölkerung inszenierten“, sagt er. „Die nationalsozialistische Ideologie konnte nur wirksam werden, indem sie die Sorgen und Nöte des Publikums aufgriff.“
Forschungsergebnisse als Videoessay
Indem die Filme an das Kriegsgeschehen anknüpften, waren sie auch nach dem Krieg anschlussfähig – denn viele Probleme wie zerrüttete Familien oder Wohnungsnot blieben erst einmal bestehen. Entsprechend wurden die meisten Filme von den alliierten Zensurverantwortlichen freigegeben. „Die Alliierten achteten meist nur auf offensichtliche Symbole wie etwa Hakenkreuze oder antisemitische Äußerungen, wenn es darum ging, einen Film als Propaganda einzuordnen“, erläutert Tatiana Astafeva. „Darüber hinaus waren die Überläuferfilme eine willkommene Einkommensquelle für Produktionsfirmen, um neue Filme zu finanzieren.“
Inzwischen haben Rasmus Greiner und Tatiana Astafeva ihre Archivrecherche abgeschlossen. Aktuell arbeiten sie daran, ihre Forschungsergebnisse in einem Buch zu bündeln. Einen Videoessay über ihre Forschung mit Ausschnitten aus fast allen Überläuferkomödien haben sie schon fertiggestellt. Hiermit wollen sie in mehrfacher Hinsicht eine Lücke schließen. Viele Überläuferfilme sind nämlich bis heute weder digitalisiert noch außerhalb der Archive zugänglich. Andere sind auf DVD erhältlich, aber häufig ohne kritische historische Einordnung. Greiner und Astafeva ist es daher wichtig, dass ihre Forschung nicht nur in Fachkreisen rezipiert wird. „Mit dem Videoessay wollen wir einer breiten Öffentlichkeit unsere Forschungsergebnisse zugänglich machen“, sagt Rasmus Greiner.