up2date. Das Onlinemagazin der Universtiät Bremen

Auf der dunklen Seite des Lebens

Seit mehr als einem Jahrzehnt ist der Rechtspsychologe Professor Dietmar Heubrock ein gefragter Berater von Polizei, Justiz, Sicherheitskräften und Hilfsorganisationen

Uni & Gesellschaft

Im Auftrag der Ermittlungsbehörden befragt er Kinder und Jugendliche, denen Schlimmes geschehen ist. Wenn Menschen Steine von Autobahnbrücken werfen, Pferde verletzen oder Terroranschläge planen, ist sein Rat gefragt. Und er half dabei, den berüchtigten „Maskenmann“ zu fassen: Dietmar Heubrock, Hochschullehrer im Studiengang Psychologie der Universität und Leiter des Instituts für Rechtspsychologie, kennt sich dort aus, wo sich die Welt hässlich präsentiert. Da, wo Tod, Gewalt und Missbrauch herrschen – auf der dunklen Seite des Lebens.

„In der ‚Hochstressphase‘ kurz vor einem Selbstmordanschlag gibt es klare Verhaltensmerkmale, die den Täter ‚sichtbar‘ machen.“

Das erste, was auffällt, sind die Polizeimützen auf dem Aktenschrank. Dann der Arztkittel mitsamt Stethoskop, die Uniformjacke, kleine Polizeipuppen. Jede Menge Bilder an den Wänden und ein gerahmtes Dankschreiben komplettieren den Eindruck: Dieses Büro hat Geschichten zu erzählen. Und natürlich sein „Bewohner“, der Rechtspsychologe Professor Dietmar Heubrock. „Die Polizeiutensilien habe ich als Dank für meine Hilfe bei Ermittlungen bekommen“, sagt er. „Wenn ein Fall gelöst wurde, durfte ich mir manchmal etwas aussuchen. Und den Arztkittel habe ich besorgt, weil wir ein Hingucker-Foto als Titelbild für unsere jüngste Publikation machen wollten. In der geht es darum, wie man rechtzeitig gefährliche Pfleger in Hinblick auf Patiententötungen entdeckt.“ Niels Högel, als einstiger Krankenpfleger ein mutmaßlicher Mörder von mehr als 100 Menschen, lässt grüßen. Und das Foto mit dem Arztkittel ist so gelungen, dass es nun auch diesen Text hier illustriert.

Ein Blick ins Bücherregal verrät, worum es in der Lehre, Forschung und Beratung des Rechtspsychologen geht. „Amok im Kopf“, „Tödliche Lust“, „Stalking in Deutschland“, „Die große Enzyklopädie der Serienmörder“, aber auch „Das neue Waffenrecht 2016“– das sind die Themen, aus denen Krimis und Thriller gemacht werden. Nur dass sie für Dietmar Heubrock und sein Team keine Fiktion, sondern brutale Realität sind. Böse Menschen entführen, missbrauchen und töten Kinder, sie schmeißen Steine auf fahrende Autos oder entfernen nachts Gullydeckel. Sie quälen wehrlose Tiere, schießen und fahren in Menschenmengen oder sprengen sich als Selbstmordattentäter in die Luft.

Das Know-how des Rechtspsychologen Professor Dietmar Heubrock ist dort gefragt, wo es um Tod, Gewalt und Missbrauch geht.
Foto: Kai Uwe Bohn / Universität Bremen

Wie „ticken“ die Täterinnen und Täter?

Mit der Psyche dieser Menschen kennen sich Ermittler und Juristen niemals so gut aus wie die unabhängigen Spezialisten, und zu denen zählt der Bremer Universitätsprofessor. Er untersucht die Mechanismen, die diese Menschen antreiben, versucht herauszubekommen, wie sie „ticken“, wie und woran man sie erkennt. Dieses Wissen gibt er an diejenigen weiter, die Taten verhindern sollen – oder, wenn sie geschehen sind, den oder die Täterinnen oder Täter fassen müssen. Und er redet mit den Opfern, vor allem Kindern und Jugendlichen. Vor der Jahrtausendwende, als Dietmar Heubrock noch wissenschaftlicher Assistent am Zentrum für Rehabilitationsforschung der Universität Bremen war, hat er dort die Neuropsychologische Ambulanz für Kinder und Jugendliche aufgebaut und geleitet. „Heute kommt mir diese langjährige Erfahrung im Umgang mit schwerkranken Kindern und Jugendlichen sehr zugute“, sagt der 60-Jährige. „Man muss selbst als authentische Person rüberkommen und eine gewisse Begabung dafür mitbringen, sich so einzufühlen, dass sich die Betroffenen öffnen.“

Fürwahr, denn die Befragung von traumatisierten Opfern, die der Wissenschaftler als „Sachverständiger im Ermittlungsverfahren“ für die Behörden vornimmt, ist eine hochsensible Angelegenheit. Innerhalb weniger Sekunden, so Heubrock, könne man alles kaputt machen und die Kinder und Jugendlichen endgültig verschließen. „Der Laie denkt oft, das ich als Psychologe mein Gegenüber einschätze und diagnostiziere. Aber es läuft andersherum: Der junge Zeuge diagnostiziert mich. Meine ich es ehrlich? Wie komme ich rüber? Was ist mein Anliegen? Warum unterstütze ich die Polizei? Was will ich von dem oder der Befragten? Wenn ich meinem Gegenüber diese Zeit gebe und auf seine Fragen antworte – auch auf die nicht gestellten, aber im Raum schwebenden –, dann gelingt der Eintritt in ein Vertrauensverhältnis, und es kann mit der eigentlichen Vernehmung losgehen.“

So wie im vielleicht bedeutendsten Fall, an dessen Lösung Dietmar Heubrock beteiligt war – der des „Maskenmannes“, wie der Täter Martin Ney wegen seines verhüllten Gesichts genannt wurde. Von 1992 bis 2001 beging er mindestens drei Morde und 40 Sexualdelikte an Kindern. Dafür stieg er in Norddeutschland unter anderem in Schullandheime und Privathäuser ein oder schlich sich in Zelte. Viele Jahre war ein Ermittlerteam, zu dem auch Dietmar Heubrock gehörte, hinter dem Maskenmann her. Einen wichtigen Anteil an der Lösung des Falles hatte die Vernehmung eines 18-jährigen Zeugen, der zehn Jahre zuvor vom Maskenmann missbraucht worden war. Er identifizierte den Täter schließlich. „Dieses Opfer war auch nach der Gerichtsverhandlung noch schwer traumatisiert. Ich habe die Gespräche mit ihm auch danach noch fortgesetzt“, sagt Heubrock. Der Norddeutsche Rundfunk hat 2016 über diesen Kriminalfall die 60-minütige Langzeitdokumentation „Der Junge und der Maskenmann“ fertiggestellt, in der auch Dietmar Heubrock und seine Arbeit eine wichtige Rolle spielen.

Ein kurzes Gefühl von Allmacht, das schnell wieder verschwindet: Menschen, die Steine von Brücken auf fahrende Autos werfen, werden oft herumgeschubst und unterdrückt.
Foto: lightninsam / stock.adobe.com

Die Allmacht des Steinewerfers

Immer wieder wird der Uni-Professor mit seiner Expertise hinzugezogen. Aus den Erkenntnissen vor Ort, Gesprächen mit Zeuginnen und Zeugen sowie Fahndenden oder durch die Lektüre der Ermittlungsergebnisse versucht er, die psychologische Verfassung der Täterin oder des Täters und die Besonderheiten einzuschätzen. „Steinewerfer“ beispielsweise sind oftmals sogenannte Loser, Menschen, die nicht richtig im Leben angekommen sind, herumgeschubst oder ‚gedeckelt‘ werden. „Für einen kleinen Moment fühlen sie sich bei ihren Taten allmächtig, als Herrscher über Leben und Tod“, sagt Heubrock. „Aber dieses Gefühl verfliegt sehr schnell, weshalb solche Taten oft in immer kürzeren Abständen wiederholt werden.“ Pferderipper wiederum sind seiner Erfahrung nach oft Menschen, die aus Rache handeln und sich ein wehrloses Zielobjekt für ihre Wut suchen. „Sie projizieren dann die Wut auf eine Person aus ihrer Biografie auf das Tier und leben sie so aus“, so der Psychologe. Er äußert sich oft vorsichtig über seine Arbeit, um keine Details polizeilicher Ermittlungsarbeit zu verraten.

Aus der Situation am Tatort ergibt sich oft ein Blick auf das Psychologische, auf etwas, was der Täter dort getan hat, was er sonst nicht tun würde. Motive spielen eine große Rolle – und eben die bereits beschriebenen Zeugenvernehmungen. „Wenn ein Zeuge oder eine Zeugin etwas gesagt hat, von dem er oder sie sich gar nicht so sicher sind oder dem sie nicht eine so große Bedeutung beimessen, kann das hinterher dennoch ein ganz entscheidender Teil des Gesamtpuzzles sein.“ Auch der Blick auf die Täterinnen und Täter und ihre Geschichte macht manche „unfassbare“ Tat verständlicher, „aber natürlich nicht akzeptabler“, so der Psychologe.

Forschungsschwerpunkt Terrorismus

Ein jüngerer Schwerpunkt seiner Arbeit ist der Terrorismus, konkreter: Anschläge durch Selbstmordattentäterinnen und -täter. Für Heubrock ist dies zum Forschungsschwerpunkt geworden. Er ist in einer Kernarbeitsgruppe des Bundeskriminalamtes zur Terrorismusforschung vertreten und hat viel zu diesem Thema publiziert. Immer wieder schult er mit seinem Know-how Gruppen wie die GSG 9, Sondereinsatzkommandos oder Personenschützer von prominenten Politikern. Denn es gibt in der „Hochstressphase“ kurz vor einer Tat klare Verhaltensmerkmale, die Täter „sichtbar“ machen. „Wer die Anzeichen erkennt und richtig deutet, kann einen Anschlag vielleicht gerade noch verhindern“, hofft Heubrock. Der Experte der Universität Bremen gibt sein umfangreiches Wissen und seine breite Erfahrung übrigens stets unentgeltlich weiter: „Daraus will ich keinen Gewinn ziehen.“

Sein Rat ist gefragt: Dietmar Heubrock bei einer Schulung in der Polizeiakademie Niedersachsen in Hann. Münden, wo er zur audiovisuellen Vernehmung bei Gesprächen mit kindlichen Opfern und Zeugen referierte.
Foto: Polizeiakademie Niedersachsen

Links:

NDR-Dokumentation „Der Junge und der Maskenmann“ auf YouTube.

zurück back


Auch interessant…

Universität Bremen