Und dann? Habe ich angefangen, mehr zu tun, als Artikel zu schreiben
Das Studium ist beendet, der erste Job kann kommen – oder? Im neuen Jahrbuch der Uni Bremen erzählen insgesamt acht Absolventinnen und Absolventen, wie es ihnen nach ihrem Abschluss ergangen ist.
Der Journalist Cordt Schnibben ist gebürtiger Bremer und hat von 1972 bis 1979 Wirtschaftswissen- schaft an der Universität Bremen studiert. Er gehörte zum zweiten Jahrgang Erstsemester, die die 1971 gegründete Universität besuchten. Später war er Redakteur bei der „Zeit“ und leitete unter anderem von 2001 bis 2013 das Gesellschaftsressort des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“. Heute engagiert Schnibben sich für die Förderung digitaler Medienkompetenz in der Bevölkerung.
Herr Schnibben, woran denken Sie als Erstes, wenn Sie sich Ihre Zeit an der Universität Bremen noch einmal vor Augen führen?
Tatsächlich muss ich in letzter Zeit öfter an mein Studium denken. Regelmäßig schrecke ich nachts hoch und habe den Impuls: „Mist, ich muss noch einen Statistikschein machen!“ Das ist bemerkenswert, weil ich heute zugeben muss, dass ich in einigen meiner 14 Semester nicht nur studiert habe. Ich war damals engagierter Kommunist, habe Streiks und Demos zum Beispiel gegen das Berufsverbot organisiert und mich innerhalb der Deutschen Kommunistischen Partei engagiert. Eigentlich habe ich mich erst so richtig in den letzten Semestern und bei der Diplomarbeit reingehängt. Da haben mein Kommilitone Paul Schröder und ich anhand der historischen Entwicklung der Stahlindustrie nachgewiesen, dass die damals sehr verbreitete Ansicht, die Gewinne von heute seien die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen, in der Stahlindustrie nicht zutrifft. Vielmehr führten die Gewinne sogar zum Abbau von Arbeitsplätzen. Das Thema hat mich damals gefesselt.
Wie kam es dazu, dass Sie in jungen Jahren schon dermaßen politisch aktiv waren?
Meine Mutter starb, als ich 13 Jahre alt war. Mein Vater war Nazi – bis zu seinem Tode. Damit habe ich mich auseinandergesetzt. Zur damaligen Zeit kam eine starke Schülerbewegung in Bremen auf – befeuert von der 68er-Bewegung und Eltern, die während der Nazizeit selbst im Untergrund waren oder den Holocaust überlebt hatten. Die haben in Schwachhauser Villen für junge Menschen Kurse in Marxismus gegeben. Ich bin dann vom Gymnasium am Barkhof auf die Reformschule Huckelriede gewechselt, in der die Schülerinnen und Schüler mehr Wahlfreiheiten hatten, was die Unterrichtsinhalte anging, und wo es eine starke Mitbestimmung durch den sogenannten Sozialistischen Schülerbund gab. Für mich war deshalb auch nach dem Abitur klar: Ich gehe für ein Jahr nach Ostberlin und studiere an der Außenstelle der Karl-Marx-Uni Marxismus, das war der Tarnname eines Internats der DKP.
Nach diesem Jahr sind Sie zurück nach Bremen gekommen. Warum?
Es war schon eine schöne Zeit dort in Ostberlin. Wir Westdeutschen waren in der Ostberliner Kneipenszene eine Attraktion. Ich habe das immer den „Ché-Faktor“ genannt: Revolutionäre mit coolen britischen Klamotten, die im Intershop einkaufen konnten. Allerdings war völlig klar, dass ich wieder nach Bremen wollte. Ich habe mich damals als Berufsrevolutionär gesehen und mein Job war es, die Westdeutschen aufzurütteln. Nach Bremen zurückgegangen bin ich aber auch wegen der Uni Bremen, weil hier so eine vielversprechende Aufbruchsstimmung herrschte. Fast alle Studierenden und Professoren waren damals links. Bis auf den Professor übrigens, der mir offenbar immer noch mit dem Statistikschein im Nacken sitzt. Der war der einzige Konservative und eigentlich ein netter Kerl. Er tat uns manchmal fast leid.
Wenn Sie die meiste Zeit nicht nur studiert haben, was haben Sie dann gemacht, während Sie eingeschrieben waren?
Zum Beispiel die Betriebszeitung „Bramme“ der DKP vor Klöckner verteilt oder in der Lila Eule und auf Mensa-Partys agitiert. Wussten Sie, dass damals bei den Mensa-Partys in einem Nebenzimmer schwedische Pornofilme gezeigt wurden? Pornografie galt als revolutionär im Sinne der sexuellen Befreiung.
Aber wie ist aus dem kommunistischen Revolutionär der Spiegel-Ressortleiter geworden?
Nach dem Studium bin ich erst mal in ein ziemliches Loch gefallen. Ich hatte einen Notenschnitt von 1,0134 und keine Ahnung, was ich mit dem Abschluss anfangen sollte. Dann habe ich irgendwo eine Anzeige gesehen: „Wollen Sie Journalist sein?“, fragten die mich. Die Anzeige war von der Journalistenschule, die heute die Henri-Nannen- Schule ist. Und ich habe mir gedacht: „Du kannst doch ganz gut Flugblätter schreiben: Journalist, das wäre doch was.“ Ich habe mich dann auf ein Volontariat bei der Nord-West-Zeitung beworben. Denen passte allerdings mein linker Hintergrund nicht. Und auch bei der Henri-Nannen-Schule bin ich erst mal abgelehnt worden. Da zur gleichen Zeit händeringend auch Werbetexter gesucht wurden, habe ich dann zunächst das gemacht und unter anderem für Unternehmen wie Club Méditerranée oder Lufthansa Anzeigen und TV-Spots gemacht. Ich war ja in Sachen Propaganda geschult.
“Wer sich verlässlich informieren will, muss so etwas sein wie sein eigener Chefredakteur, um entscheiden zu können, welcher Quelle man trauen kann.“
Vom Kommunisten zum Werbetexter: Das hört sich nach einem biografischen Bruch an. Hat sich das auch so angefühlt?
Tatsächlich hat mich der Job als Werbetexter meinen kompletten Freundeskreis gekostet. Das war aber auch sehr heilsam. Endlich habe ich die politischen Entwicklungen mal mit etwas Distanz von außen betrachtet und konnte so aus dem weltanschaulichen Irrgarten, in dem ich unterwegs war, aussteigen. Im zweiten Anlauf hat es dann übrigens doch geklappt bei der Henri-Nannen-Schule. Allerdings lag es, glaube ich, nicht an meinem Talent. Die waren eher beeindruckt, dass ich bereit war, mein 7.000-D-Mark-Werbetextergehalt gegen 1.000 D-Mark Journalistenschülereinkommen einzutauschen.
Im Beruf des Journalisten haben Sie viele Erfolge gefeiert, unter anderem zweimal den Adolf-Grimme-Preis erhalten. Statt sich auf diesen Lorbeeren auszuruhen, engagieren Sie sich für die Weiterentwicklung des Journalismus in Zeiten des Medienwandels und für die Verbreitung von Medienkompetenz in der Gesellschaft, besonders an Schulen. Was treibt Sie an?
Wir leben in Zeiten, in denen neben die klassischen Medien wie Zeitungen, Zeitschriften, Radio und Fernsehen die sozialen Medien wie Facebook, Instagram und Youtube getreten sind. Wer sich verlässlich informieren will, muss so etwas sein wie sein eigener Chefredakteur, um entscheiden zu können, welcher Quelle man trauen kann. Durch das Internet und die sozialen Medien kann theoretisch jeder mit großer Reichweite publizieren. Das bedeutet enorme emanzipatorische Chancen, birgt aber auch große Risiken. Da werden Fake News verbreitet, da publizieren viele Leute ohne Wissen darüber, wie man Rechte von anderen Leuten schützen muss, das Recht am eigenen Bild respektieren muss und andere Dinge, die jeder Journalist beachten muss. Mit unserer Online-Lernplattform „Reporterfabrik“ und dem Schulprojekt „Reporter4you“ wollen wir deshalb die Medienkompetenz der Bürgerinnen und Bürger stärken. Dafür gehen wir unter anderem in Schulen und versuchen aktuell Lehrkräftefortbildungen auf die Beine zu stellen. Dieses Engagement hängt auch mit meiner Zeit an der Bremer Uni zusammen, im Studium wurde die gesellschaftliche Verantwortung betont, die man als Absolvent der Uni hat, und als Journalist habe ich das immer im besonderen Maße vertreten.
Nach seinem Studium in Gesellschaftswissenschaften an einer Außenstelle der Leipziger Karl-Marx-Universität Ostberlin machte Cordt Schnibben sein Diplom in Wirtschaftswissenschaften 1979 an der Uni Bremen.