„Alternative Fakten sind ein kommunikatives Ausweichmanöver“
Wie umgehen mit Falschinformationen? Ein Gespräch mit dem Soziologen Dr. Nils Kumkar
Im Wahlkampf nehmen es einige mit der Wahrheit nicht so genau: Alleine 30 Falschaussagen wurden Donald Trump in seinem TV-Duell mit Joe Biden vom Juni 2024 nachgewiesen. Und auch in Deutschland ziehen Parteien mit fraglichen Aussagen in den Wahlkampf – etwa die AfD, die anzweifelt, dass der Klimawandel vor allem menschengemacht sei. Doch wieso kommen solche Falschinformationen überhaupt auf, was kennzeichnet sie und wie können wir mit ihnen umgehen? Dr. Nils Kumkar, wissenschaftlicher Mitarbeiter am SOCIUM – Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik, hat zu diesem Thema das Buch „Alternative Fakten. Zur Praxis der kommunikativen Erkenntnisverweigerung“ veröffentlicht. up2date. traf ihn zum Gespräch.
Herr Kumkar, der Begriff „alternative Fakten“ ist in den vergangenen Jahren zu einem geflügelten Wort geworden. Aber wie ist er überhaupt entstanden?
Das war im Zuge der Amtseinführungsfeier von Donald Trump im Januar 2017. Fotos zeigten damals, dass bei dieser Feier deutlich weniger Menschen vor Ort waren als bei der von Barack Obama vier Jahre zuvor. Dennoch behauptete Sean Spicer, der Pressesprecher des Weißen Hauses, noch nie seien mehr Menschen bei der Amtseinführungsfeier eines Präsidenten gewesen. Eine problematische Aussage, auf die Kellyanne Conway, eine Beraterin des Präsidenten, anschließend in einem Fernsehinterview angesprochen wurde. Sie sagte, Spicer habe nicht gelogen, sondern lediglich alternative Fakten genannt. Von da an war der Begriff in der Welt und in den nächsten Wochen in fast jeder überregionalen Zeitung Gegenstand von Diskussionen.
War das auch für Sie der Anlass, sich mit diesem Thema zu beschäftigen?
Ich habe die Diskussion natürlich mitverfolgt, aber wissenschaftlich habe ich das Thema erst später aufgegriffen. Das war während der Coronapandemie, als in den Medien immer wieder die Sorge um Falschinformationen in den sozialen Medien laut wurde. In einem Forschungsprojekt, das von der Otto-Brenner-Stiftung gefördert worden ist, habe ich mir mit Hannah Trautmann Äußerungen zur Pandemie auf Facebook angeschaut. Wir wollten wissen, welche kommunikativen Funktionen Falschinformationen hier erfüllten – und warum sie immer weiter geteilt wurden.
Und was haben Sie dazu herausgefunden?
Wir stellten fest, dass die damals gängigen Theorien das Phänomen nicht vollständig erklären konnten. Viele Forschende aus den Medienwissenschaften und der Psychologie gingen nämlich von der impliziten Annahme aus, dass es im Wesentlichen zwei Gründe gibt, warum Menschen Falschinformationen in die Welt setzen und verbreiten. Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die bewusst lügen, etwa um andere zu manipulieren. Und auf der anderen Seite stehen die, die diese Lügen glauben – etwa, weil sie naiv sind oder die Nachrichtenlage nicht überblicken. Aber wir fanden heraus, dass viele Menschen sich nicht in diese beiden Kategorien einordnen ließen.
Wenn es weniger um naives Glauben oder um Lügen ging, worum ging es dann?
Viele, die Falschinformationen zu einem bestimmten Thema verbreiten und aufgreifen, scheinen sich nicht besonders für den Wahrheitsgehalt dieser Behauptungen zu interessieren. Dabei kennen sie durchaus die aktuell gesicherten Fakten. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass sie häufig auf diese Fakten Bezug nehmen. Es geht für sie also weniger darum, alternative Gedankensysteme aufzubauen. Sondern sie möchten eher Zweifel an allgemein bekannten Theorien bekunden.
Mit welchem Ziel?
Bei alternativen Fakten handelt sich um ein kommunikatives Ausweichmanöver. Denn mit der Anerkennung der gesicherten Fakten sind bestimmte politische und gesellschaftliche Konsequenzen verbunden. Denken Sie zum Beispiel an den Klimawandel: Je stärker die Temperaturen und der Meeresspiegel wahrscheinlich steigen, desto dringlicher werden Maßnahmen zur Eindämmung und Anpassung. Die Politik gerät unter Druck, Entscheidungen zu treffen, die grundlegend zum Beispiel in das Wirtschaftssystem eingreifen. Und unter diesem Druck formieren sich unter anderem Vereinigungen wie etwa das Nongovernmental International Panel on Climate Change (NIPCC). Das ist eine Organisation, die den menschengemachten Klimawandel leugnet und deren Berichte ich für mein Buch untersucht habe.
Wie sieht die Argumentation der Klimawandelleugner:innen aus?
Sie ist vor allem in sich widersprüchlich. Auf der einen Seite besagen die Berichte beispielsweise, es gebe überhaupt keine verlässliche Messung der Klimaerwärmung. Auf der anderen Seite argumentiert das NIPCC, die Klimaerwärmung werde eigentlich durch Sonnenwinde verursacht. Natürlich können nicht beide Aussagen stimmen. Aber meine Theorie ist, dass es in erster Linie auch gar nicht um eine schlüssige Argumentation geht. Das NIPCC möchte vor allem Zweifel an der gesicherten Erkenntnis mobilisieren, dass der Klimawandel menschengemacht ist und eine Gefahr für Mensch und Umwelt darstellt. So kann es für den Moment den Druck auf die Politik, Maßnahmen ergreifen zu müssen, verringern.
Und wie verbreiten sich alternative Fakten?
Eine gängige Theorie ist, dass es mehr oder weniger geschlossene Filterblasen gibt, in denen Menschen mit ähnlichen Sichtweisen ihre eigenen Versionen der Realität konstruieren. Daran ist sicher auch einiges richtig, wenn man etwa auf die politischen Spaltungen in den USA schaut. Aber ich denke, dass ein anderes Phänomen für die Verbreitung von alternativen Fakten eine größere Rolle spielt: die ständige Verfügbarkeit von Informationen.
Müsste die Verfügbarkeit von Informationen nicht gerade dazu führen, dass Falschinformationen schnell enttarnt werden?
Zum Teil ist das sicherlich so, und es ist wichtig, dass Falschinformationen richtiggestellt werden. Aber diese ständige Verfügbarkeit macht es auch schwerer, Informationen zu ignorieren. Niemand muss sich heute mehr eine Zeitung kaufen, um politisch und gesellschaftlich auf dem neuesten Stand zu sein. Alle können sich informieren, und alle wissen, dass sich die anderen auch informieren können. Man kann unangenehmen Informationen also nicht mehr aus dem Weg gehen, indem man sagt, man hätte nichts von ihnen gewusst. Als Ausweg bleibt dann nur noch, gesicherte Fakten anzuzweifeln.
Ist es also heutzutage unvermeidlich, dass alternative Fakten sich verbreiten? Oder können wir etwas gegen ihre Ausbreitung tun?
Viele Medien reagieren auf Falschinformationen mit Formaten wie Faktenchecks. Und es ist zweifellos richtig, falsche Aussagen nicht einfach stehenzulassen. Aber man muss sich auch vor Augen führen, dass Richtigstellungen nur bis zu einem gewissen Punkt weiterhelfen. Denn mindestens genauso wichtig wie die Informationen an sich sind die Kontexte, in denen sie stehen. Die wenigsten Menschen wählen die AfD, weil die Partei den menschengemachten Klimawandel leugnet. Wichtiger ist das politische Programm, in das diese Leugnung eingebunden ist, und das zum Beispiel Stabilität und den Erhalt von Wohlstand verspricht. Ob dieses Versprechen realistisch ist und was es konkret bedeutet, darüber kann man dann ausgiebig diskutieren. Das erscheint mir in vielen Fällen zielführender zu sein, als über die Falschaussagen an sich zu sprechen.