„Dankbarkeit hat im Alter eine große schützende Funktion“
Deutschlands führender Gerontologe sagt, worauf wir achten müssen, wenn wir erfüllt altern wollen
Auswendig vorgetragene Gedichte, eigenhändig gespielte Klaviermusik: Mit seinem Festvortrag „Alternde Gesellschaft – Chancen und Risiken“ im Rahmen der Bremer Universitätsgespräche zog der Heidelberger Psychologe Professor Andreas Kruse die Zuhörerinnen und Zuhörer in seinen Bann. Er traf Aussagen über das Altern, die jede und jeden etwas angehen.
Der Heidelberger Psychologe Professor Andreas Kruse spricht nicht von „den Alten“, sondern vom Altern. Was verbirgt sich dahinter? „Ein Prozess der kontinuierlichen irreversiblen Veränderung der lebenden Substanz.“ Krankheit einmal ausgenommen. Deutschlands führender Gerontologe stellt fest: „Natur kennt keine Sprünge. Altern ist keine diskontinuierliche Entwicklung, sondern eine stetige Veränderung, die in frühen Jahren beginnt. Eine Biomorphose“.
„Alternde Gesellschaft – Chancen und Risiken“ ist Thema seines Festvortrags während der 32. Bremer Universitätsgespräche. Der luziden und rhetorisch einzigartigen Rede (garniert mit auswendig vorgetragenen Gedichten und eigenhändig gespielter Klaviermusik) folgen die Zuhörerinnen und Zuhörer wie gebannt – mehr als eine Stunde lang und zwar so, dass man eine Stecknadel zu Boden fallen hören kann. Warum? Kruse trifft Aussagen über das Altern, die jede und jeden etwas angehen.
In die Gesundheit investieren
Was bei dem Thema häufig vergessen wird, er lässt es nicht aus: Die soziale Ungleichheit. „Krankheiten zu vermeiden, das ist das obere Ende der sozialen Skala, Krankheiten erleiden, ihr unteres“, sagt er. Das sei eine „soziale und bildungsbezogene Rahmung“. Wenn also das Altern ein Gestaltwandel ist, der sich kontinuierlich vollzieht, so muss in den frühen Jahren in die Gesundheit und damit in das Altern investiert werden. „Das ist der zentrale Faktor für eine günstige körperliche Entwicklung im Alter“, unterstreicht der Gerontologe mehrfach und eindringlich. Prävention ist das Stichwort. In diesem Zusammenhang lobt der Gast das Programm des Bremer Instituts für Public Health und Pflegeforschung (IPP).
Im Heidelberger Institut für Gerontologie an der Ruprecht-Karls-Universität, das er leitet, begreife sein Forschungsteam immer mehr, was es bedeute, wenn Menschen in jungen Jahren kaum Bildungsgrundlagen haben. „Sterblichkeit ist eng an den Bildungsstand geknüpft“, sagt der Experte und mahnt: „Von Kindesbeinen an müssen Menschen Zugang zu Bildung haben, die sie in die Lage setzt, verantwortlich zu leben“. Als Beispiel wählt er Altersdiabetes Typ II als Resultat falscher Ernährung. Bereits 15 von 1000 Kindern leiden daran.
Kann der Mensch sein Altern aufhalten, gar rückgängig machen? Letzteres nicht, so Kruse. „130 Jahre alt zu werden, kann nicht das Ziel sein.“ Die gute Botschaft allerdings sei, dass die genetische Formel in der DNA immer wieder aktiviert werden kann. Wem es also gelinge, in seinem Lebenslauf von Kindheit an schädigende Faktoren zu vermeiden, die sich auf die DNA auswirken, der ertüchtige sie, Zellen zu reparieren. „Sie müssten im neurobiologischen Labor mal eine Nervenzelle sehen, die lernt“, illustriert der Vortragende den wichtigen Faktor des lebenslangen Lernens. „Ihre elektrophysiologische Aktivität, die sie weitergeben kann, strahlt dabei auf andere Zellen aus.“
Aktivität und Stimulation
In der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung mit ihrem demographischen Wandel komme es darauf an, die Umwelt sozial, räumlich und kulturell so zu ordnen, dass auch Menschen ab 80 Jahren ein ethisch sinnerfülltes, stimmiges Leben führen können. Es soll ihnen Aktivität und Stimulation bis hin zur aktivierenden Pflege ermöglichen. Auch wenn die Verletzlichkeit zunehme und der Körper immer weniger kontrollierbar oder verstehbar sei, so laufe doch der seelische Alterungsprozess im Sinne eines Reifeprozesses ab. „In Auseinandersetzung mit der eigenen Verletzlichkeit reifen“, sagt Professor Kruse.
„Wir müssen deutlich machen, dass Menschen auch im hohen Alter ganz viel zu sagen haben und den Jüngeren mit auf den Lebensweg geben können.“ Dieser Austausch zwischen den Generationen ist dem Vortragenden ganz wichtig. Er illustriert es an Beispielen. So habe sein Institut erfolgreich 80 bis 95-Jährige mit Acht- bis Zehnjährigen in Projekten zusammengebracht und die Möglichkeit eröffnet, „sich umeinander zu sorgen“. Wenn ein Mensch im Alter keine Möglichkeit habe, sich um einen anderen zu sorgen, öffne das Depressionen Tür und Tor. „Das kulturelle Kapital der Alternden muss in der Gesellschaft genutzt werden“, sagt Kruse. Reife, Verletzlichkeit, Sorge, das sind die Fahnenwörter seines Vortrags.
„Abschiedlich leben“
„Die Fähigkeit, abschiedlich zu leben, hat mit der Dankbarkeit gegenüber dem Leben zu tun“, sagt der Experte und unterstreicht, dass es notwendig sei, sich auf das Alter vorzubereiten. „Dankbarkeit hat eine große, schützende Funktion.“