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Das Land der 100.000 Kompromisse

Wie ist die aktuelle Lage in Afghanistan? Politikwissenschaftler Professor Klaus Schlichte von der Universität Bremen gibt im Interview Einblicke und wagt eine Zukunftsprognose

Forschung / Uni & Gesellschaft

Aktuell bereiten sich elf Afghan:innen in der Bremer Sprachschule „Casa“ darauf vor, ab Herbst ein Studium an der Universität Bremen aufzunehmen. Seit Sommer 2023 leben sie über das Ormid-Farda-Stipendium der Universität Bremen und der Akademie HERE AHEAD in Deutschland, um hier ihre akademische Laufbahn fortzusetzen, die sie nach der Machtübernahme der Taliban abbrechen mussten. In dem up2date.-Artikel „Die einzige Chance etwas Sinnvolles zu machen“ berichten sie von ihren Erfahrungen und Eindrücken. Parallel hat die up2date.-Redaktion den Bremer Politikwissenschaftler Klaus Schlichte um eine Einschätzung der aktuellen Lage in Afghanistan gebeten.

Herr Schlichte, als Professor für Internationale Beziehungen und Weltgesellschaft forschen sie seit vielen Jahren zu Afghanistan. Wie sieht es dort aktuell aus?

Es ist tatsächlich so, wie die Medien berichten: Das Land liegt am Boden. Bis zur Machtübernahme der Taliban im Sommer 2021 bestand der Staatshaushalt zu etwa 80 Prozent aus Zuweisungen aus dem Westen. Das fiel von heute auf morgen weg. Die wirtschaftliche Situation ist nach wie vor ein Desaster, in der Bevölkerung herrscht große Not. Es fehlt an sauberem Wasser, ausreichend Nahrung, zuverlässigen Straßen, Wärme und Strom. Das müssen die Taliban lösen, wenn sie sich an der Macht halten wollen. Doch perspektivisch geht es um mehr. In den 20 Jahren zuvor hatten die Amerikaner und ihre Verbündeten einiges an Infrastruktur im Land aufgebaut. Daher gibt es bei der Bevölkerung eine neue Erwartungshaltung. Die Machthaber müssen liefern, damit die Bevölkerung spürt, dass sich ihre Lage verbessert, es wieder Aufstiegsmöglichkeiten im Land gibt.

Aufstiegsmöglichkeiten – beispielsweise durch Bildung? Gilt das auch für Mädchen und Frauen?

Das ist nicht geklärt bisher. Die Lage für uns Forschende ist sehr schlecht, wir kommen kaum an gesicherte Informationen. Ich habe gehört, dass Verhandlungen mit den Taliban laufen, den Schulbesuch für Mädchen bald wieder zu erlauben, nicht nur im Primärbereich, sondern perspektivisch auch darüber hinaus. Es gibt hier und dort immer noch kleine NGOs, die noch vereinzelt weiterführende Schulen für Mädchen betreiben. Aber Afghanistan ist kein zentralistisches System. Es sind regional begrenzte Lösungen, die nur lokal möglich sind, weil gut verhandelt wurde.

Verhandelt? Mit wem, den Taliban?

Genau. Was vielen in Europa nicht bewusst ist: Die Taliban sind keine Oberpostdirektion. Es gibt in dem Land keine Zentralregierung, die flächendeckend etwas gleichförmig organisieren kann. Das Land ist sehr lokal strukturiert, die örtlichen Vertreter verhandeln mit der Hierarchie der Taliban. Das bedeutet: Vieles ist möglich, wenn man vor Ort an die richtigen Leute gerät. Allerdings heißt das auch, dass die Verhältnisse sehr uneinheitlich sind und nicht alle die gleichen Chancen bekommen. Afghanistan ist das Land der 100.000 Kompromisse.

Was bedeutet das konkret für die Zukunftsaussichten der jungen Generation?

Das ist schwer zu sagen. Der persönliche Erfolg hängt immer noch sehr stark davon ab, wo man herkommt, mit wem man verwandt ist oder sich gut gestellt hat. Für die jungen Menschen im Land sehe ich aber schon Hoffnung. Über die Zeit wird sich meiner Einschätzung nach die Lage in Afghanistan normalisieren. Wie solch eine Entspannung laufen kann, wird gerade am Beispiel Iran ganz gut sichtbar. Das iranische Regime sieht sich heute einem ganz anderen Druck aus der Bevölkerung ausgesetzt als direkt nach der Revolution 1981. Längst sind sie gezwungen, auf die Bedürfnisse der Bevölkerung – vor allem die der jungen Menschen – einzugehen, um ihre Macht behalten zu können. Vor diesem Hintergrund sehe ich eine realistische Chance, dass die Stipendiat:innen und andere gebildete Afghan:innen eines Tages in ein Land zurückkehren können, das ihnen Chancen bietet.

Zur Person:

Klaus Schlichte ist seit 2010 Professor für Internationale Beziehungen und Weltgesellschaft an der Universität Bremen. In seiner Arbeit am Institut für Interkulturelle und Internationale Studien (InIIS) entwickelt er einen historisch-soziologischen Ansatz für internationale Beziehungen. Er hat in Serbien, Frankreich, Mali, Senegal und Uganda geforscht, häufig in Kooperation mit Wissenschaftler:innen aus der Soziologie, Geschichtswissenschaft und Ethnologie. Vor seiner Tätigkeit an der Universität Bremen hat Klaus Schlichte an der Humboldt-Universität (HU) Berlin sowie den Universitäten Hamburg, Konstanz und Magdeburg unterrichtet. Von 2001 bis 2007 leitete er die Nachwuchsforschergruppe „Mikropolitik bewaffneter Gruppen“ an der HU.

Weitere Informationen

Webseite von Klaus Schlichte

Zum Artikel über die drei afghanischen Stipendiat:innen: „Die einzige Chance, etwas Sinnvolles zu machen“

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