Das Phänomen Enid Blyton
Warum sind umstrittene Geschichten wie Hanni und Nanni oder die Fünf Freunde noch beliebt? Literaturwissenschaftler:innen suchen nach Antworten
Fast alle kennen sie: die Geschichten von „Hanni und Nanni“, den „Fünf Freunden“ oder die „Geheimnis um“-Reihe. Die Werke der britischen Kinder- und Jugendbuchautorin Enid Blyton sind mehr als 70 Jahre nach ihrem Erscheinen immer noch sehr beliebt. Erst kürzlich haben BBC und ZDF eine neue Film-Reihe über die „Fünf Freunde“ gedreht. Und dass, obwohl die Geschichten über Julian, Dick, Anne, George und Hund Timmy Fachleuten zufolge literarisch wenig wertvoll und teils sogar rassistisch sind. Woher kommt dieser Jahrzehnte überdauernde Erfolg? Ein Phänomen, dem die Forscherin Dr. Stefanie Jakobi aus dem Fachbereich 10 Sprach- und Literaturwissenschaften der Universität Bremen gemeinsam mit Wissenschaftler:innen aus aller Welt auf den Grund geht.
Das Besondere an Enid Blytons Werk fasst die Philologin Stefanie Jakobi in einem Wort zusammen: Nostalgie. „In den Geschichten wird die Sehnsucht nach der sogenannten quintessentiell ‚englishness‘, dem vollkommenen Englisch-Sein, sichtbar“, erklärt die 37-Jährige, die seit 2015 an der Universität Bremen zu Kinder- und Jugendliteratur forscht. Blytons Bücher sind eine Reise in das ländliche Großbritannien der 40er-Jahre. Sie spiegeln ein Idealbild wider: einen sicheren Ort für Kinder, an dem sie selbstbestimmt handeln und Abenteuer erleben können. Die Held:innen sind Teil einer homogenen Gesellschaft, der mittleren Oberschicht. Diese bleibt am liebsten unter sich und im Verlauf der Geschichten wird deutlich, dass das auch so erwünscht ist.
Doch Blyton bedient nicht nur eine Sehnsucht der englischen Bevölkerung. „Sie war eine der produktivsten Autorinnen überhaupt“, ergänzt Jakobi. Mehr als 700 Bücher und um die 10.000 Kurzgeschichten stammen aus ihrer Feder. Besonders bekannt ist Blyton für ihre Abenteuer- und Schulgeschichten. Über ein Magazin stand sie in ständigem Kontakt zu ihren jungen Leser:innen und hatte Freude daran, die Wünsche der Kinder und Jugendlichen zu erfüllen. Ihr kommerzieller Erfolg in Großbritannien blieb nicht unbemerkt. Andere wollten mitverdienen. Bereits in den 50er-Jahren gab es die ersten Übersetzungen.
Platz vier der meistübersetzten Autor:innen weltweit
„So wurde Enid Blyton eins der ersten globalen Phänomene“, sagt Stefanie Jakobi. Nach Agatha Christie, Jule Vernes und William Shakespeare belegt Blyton laut des „Index Translationum“, der UNESCO-Datenbank für Buchübersetzungen, Platz vier in der Rangliste der meistübersetzten Autor:innen weltweit. Ihre jungen Held:innen sind in mehr als 90 Sprachen vertreten. Ein Erfolg, den die Forschung nicht ignorieren kann. Oder? „In der Forschung spielte sie interessanterweise bisher keine große Rolle“, erklärt Jakobi. Es gebe unter den Forschenden eine Art Abwehrhaltung, weil Blytons Texte als literarisch wenig wertvoll eingeschätzt werden. „Kennst du einen, kennst du alle – das hört man häufig, wenn es um Blyton geht“, erläutert Jakobi.
Sie selbst hat ebenfalls ein distanziertes Verhältnis zu Hanni und Nanni, Dolly und den anderen Protagonist:innen Blytons. Das liege allerdings nicht nur an der minderen literarischen Qualität. „Die Geschichten stecken voller Stereotype. Sie sind zum Teil rassistisch, sexistisch und klassistisch“, stellt Jakobi klar. Beispielsweise inszenieren die Texte den Ausschluss eines „neureichen“ Mädchen aus der Klassengemeinschaft in „Hanni und Nanni“, weil sie mit ihrem Reichtum prahle und sich gleichzeitig den Hals nicht richtig wasche. Das würde heutzutage klar als Klassismus eingestuft. Die Abenteuer der „Fünf Freunde“ sind zudem häufig durch Rassismus geprägt: Die Verbrecher stammen nahezu ausschließlich aus marginalisierten Gruppen.
Bücher aus den Bibliotheken verbannt
Das fiel bereits kurz nach dem Erscheinen der Geschichten auf. „Damals wurden die Bücher aufgrund ihrer ästhetischen Schwächen aus den Bibliotheken herausgenommen“, weiß Jakobi zu berichten. Doch die Geschichten fanden trotzdem den Weg zu ihrer Leser:innenschaft. In der Forschung blieb Blytons Werk über Jahrzehnte auf seine offensichtliche Formelhaftigkeit und problematischen Inhalte reduziert. Andere Ansätze, sich ihrer Literatur zu nähern, gab es laut Jakobi kaum.
Bis jetzt. Ende September 2024 veranstaltete Jakobi gemeinsam mit ihren Kolleginnen Dr. Aileen Behrendt (Universität Potsdam) und Dr. Hadassah Stichnothe (Freie Universität Berlin) die internationale Fachkonferenz „Writing a British Childhood in a Global Context? Critical Perspectives on Enid Blyton“ an der Universität Potsdam. Philolog:innen aus dem Vereinigten Königreich, Irland, Frankreich, Griechenland, Osteuropa, Indien und Australien tauschten sich über ihre Erkenntnisse zum Phänomen Enid Blyton aus. „Wir wollten wissen: Was passiert mit den Texten, die so absolut ‘english‘ sind, wenn sie in internationale Kontexte hineinwandern?“, erklärt Jakobi. Die Antwort nach 20 Konferenzbeiträgen: Ganz schön viel!
Enid Blyton ist nicht gleich Enid Blyton
Der Austausch auf der Konferenz hat bestätigt, was die Forschenden bereits vermutet hatten: Enid Blyton ist nicht gleich Enid Blyton. Bei den Übersetzungen wurden die Geschichten häufig stark gekürzt und verändert. Somit treffen britische, französische und deutsche Leser:innen auf ganz unterschiedliche Texte. Wie weit diese Abweichungen gehen, zeigt sich insbesondere beim Blick auf die „Dolly“-Reihe: In der englischen Fassung geht die Protagonistin nach erfolgreichem Schulabschluss an die Universität. In der deutschen Version kehrt Dolly indes an ihr früheres Internat zurück, weil an der Uni alles irgendwie zu schwierig war. Sie heiratet einen der Lehrer und findet ihre wahre Bestimmung als Hausfrau und Mutter. „Das entspricht den Inszenierungen von Weiblichkeit in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur der 60er-Jahre“, erklärt Jakobi.
Aber dafür gleich einen ganzen Roman umschreiben? Offenbar ja. Und es geht noch weiter: In den vergangenen Jahrzehnten sind immer wieder Jugendbücher unter dem Label „Enid Blyton“ erschienen, die gar nicht von ihr stammen. Die bekannte Signatur mit den beiden kurzen Strichen unterhalb des Autorinnennamens wurde schon zu Blytons Lebzeiten auch für andere Autor:innen verwendet. Nach ihrem Tod 1968 wurde die Marke weiter ausgebaut und auf diese Weise immer heterogener.
Stereotype bleiben
Nur eins ist vielfach geblieben: Die Stereotype. Zwar wird in modernen Fassungen beispielsweise das Z-Wort nicht mehr benutzt, aber vielfach bleibt es laut Jakobi bei diesen rein sprachlichen Anpassungen. „Der Europa-Verlag lässt seine alten „Fünf Freunde“-Hörspiele weitgehend unbearbeitet und stellt einen Disclaimer voran“, hat Jakobi beobachtet. Dieser Disclaimer stellt zwar klar, dass die Geschichten diskriminierend und mit den heutigen Vorstellungen einer pluralistischen Gesellschaft nicht mehr vereinbar seien. Man habe sich allerdings dafür entschieden, „sie nicht zu verändern, um die kulturellen Versäumnisse der Vergangenheit nicht zu verbergen“, heißt es weiter.
Jakobi hält davon wenig: „Ganz ehrlich: Das sagt den Kindern, die das heute hören, gar nichts. Sie skippen dieses komische Intro einfach oder haben es im Laufe der Geschichte wieder vergessen. Am Ende hören sie eben doch Geschichten, in denen die Verbrecher ethnisch markiert sind.“ Ihrer Meinung nach sollten die Stereotype in diesen Texten nicht mehr reproduziert werden. „Wir haben andere Geschichten, neue Geschichten; diesen Geschichten und den vielfältigen und diversen Stimmen, die hinter und in ihnen stecken, wäre Gehör und Raum zu verschaffen. Für die kritische Reflexion bieten Blyton und ihre Texte hingegen noch reichlich Anschlussstellen“, ist die Literaturwissenschaftlerin überzeugt.
Webseite Fachbereich 10 Sprach- und Literaturwissenschaften
Webseite der Tagung
Wissenschaftliches Portal zur Kinder- und Jugendmedienforschung