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Die Europawahl im Juni: Warum wir wählen gehen sollten

Die Rechtswissenschaftlerin Pia Lange über die Bedeutung des EU-Parlaments und die Angewohnheit der Nationalstaaten, mit dem Finger auf Brüssel zu zeigen.

Uni & Gesellschaft

Im Juni 2024 ist Europawahl: Die Bürger und Bürgerinnen der 27 EU-Staaten entscheiden, wer sie im Europäischen Parlament vertritt. Mit 96 von 720 Mandaten stellt Deutschland die meisten Abgeordneten. Über die Bedeutung der Wahl hat up2date. mit Pia Lange gesprochen. Sie ist Professorin für Öffentliches Recht, Europarecht, Sozialrecht, Geschlechter- und Vielfaltsdimensionen im Recht sowie Direktorin des Zentrums für Europäische Rechtspolitik an der Universität Bremen.

Inwieweit beschäftigen Sie sich als Juristin mit der Europäischen Union?

Naturgemäß beschäftige ich mich mit Europarecht, also beispielsweise mit dem institutionellen Gefüge der EU und der Krise des Rechtsstaats. In Polen und Ungarn haben in den letzten Jahren Entwicklungen stattgefunden, die die EU politisch und rechtlich vor eine große Herausforderung gestellt haben. Die Union gründet sich unter anderem auf dem gemeinsamen Wert der Rechtsstaatlichkeit, von dem etwa auch die Unabhängigkeit der Justiz umfasst ist. Die Frage war: Wie soll das Recht darauf reagieren, wenn die Werte, die man vereinbart hat, um dieser Union beizutreten, innerhalb der EU-Mitgliedstaaten nicht mehr eingehalten werden. Wir mussten feststellen, dass das Recht an Grenzen stößt. Die EU hat ja viele Hebel angesetzt, um dem entgegenzutreten.

Welche sind das?

Man hat versucht, das so genannte „Artikel-7-Verfahren“ zu aktivieren. Dabei geht es darum, die Vorgänge in den betroffenen Mitgliedstaaten zu verurteilen und ihnen mit einer qualifizierten Mehrheit der übrigen Mitgliedstaaten die Stimme zu entziehen. Durch ihr Veto haben Polen und Ungarn dieses Verfahren aber immer wieder blockiert. Dann hat man es über finanzielle Sanktionen versucht, indem die Mittelvergabe an die Einhaltung bestimmter Werte geknüpft wurde. Das hat etwas bewirkt. Polen hat einige seiner Justizgesetze in Teilen wieder zurückgenommen. Dann besteht noch die Möglichkeit von Verfahren vor der europäischen Gerichtsbarkeit, also vor dem EuGH. Man kann versuchen, Vertragsverletzungen zur Anklage zu bringen. Oft ist das Recht aber begrenzt.

… und wenn sich die politischen Kräfte durch eine Wahl ändern?

Vor kurzem hat es in Polen durch eine Wahl eine neue Gewichtung der politischen Kräfte gegeben. Jetzt wird dort versucht, den vorherigen Abbau der Rechtsstaatlichkeit wieder zurückzudrehen. Aber das ist nicht so einfach. Das wird sich nicht in kurzer Zeit wieder umdrehen lassen. Das wird Polen noch lange beschäftigen. Wenn der Umbau der Justiz erst einmal vollzogen ist, ist damit der Willkür Tür und Tor geöffnet. Oft sind Lebenszeitpositionen mit Personen neu besetzt worden, deren Einstellungen nicht mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar sind.

Das alles findet innerhalb der Mitgliedsstaaten statt. Warum brauchen wir dann überhaupt die EU?

Ich möchte besonders die Bedeutung des EU-Parlaments hervorheben. Wir haben traditionell eine niedrige Wahlbeteiligung bei Europawahlen. Das hängt damit zusammen, dass der Bevölkerung die Bedeutung nicht bewusst ist. Seit dem Vertrag von Lissabon, also seit 2009, ist das Europäische Parlament Mitgesetzgeber. Das heißt, wir haben zwar die EU-Kommission, die Vorschläge macht, und wir haben den Rat, das Koordinierungsgremium der einzelnen Mitgliedsstaaten, aber wir haben eben auch das EU-Parlament, das in ganz wichtigen Fragen eine Rolle spielt. Schauen Sie sich zum Beispiel den European Green Deal an. Er wurde von der Europäischen Kommission 2019 mit dem Ziel vorgestellt, bis 2050 in der Europäischen Union die Netto-Emissionen von Treibhausgasen auf Null zu reduzieren und somit als erster Kontinent klimaneutral zu werden.

Befürchten Sie denn bei den bevorstehenden Europawahlen auch einen Siegeszug der Rechtspopulisten?

Nachdem die Pläne der AfD zur sogenannten Remigration aufgedeckt wurden, haben wir in Deutschland ja eine engagierte Zivilgesellschaft erlebt, die mit vielen großen Demonstrationen ihre Gegenwehr bekundet hat. Ich habe die Hoffnung, dass diese Welle noch weiterträgt. Trotzdem befürchte ich, dass wir einen deutlichen Zuwachs der rechtspopulistischen Parteien erleben werden. Damit wächst auch die Gefahr, dass das europäische Parlament von diesen lahmgelegt wird. Je größer der Anteil ist, desto schwieriger wird die Mehrheitsfindung unter den demokratischen Parteien.

Was ist aus Ihrer Sicht die Ursache für das europaweite Erstarken des Rechtspopulismus?

Ich denke, große Teile der Bevölkerung haben das Gefühl, dass für wichtige Fragen keine Lösungen gefunden werden. Das betrifft auch Themen wie den Klimaschutz oder die Verkehrswende. Ich sehe die Gefahr, dass die Union nach rechts ausschert, weil sie Themen aufgreift, Vokabular übernimmt und versucht, sich anzubiedern. Dagegen wäre eigentlich aber Abgrenzung wichtig. Da sehe ich Defizite. Die demokratischen Parteien brauchen die Fähigkeit und die Kraft zum Konsens.

Die populistischen Parteien fordern ja eine Rückkehr zum Nationalstaat.

Was die populistischen Parteien eint: Sie lehnen die Institutionen der EU ab und wollen diese abschaffen. Das ist ein bisschen widersprüchlich, weil sie die Institution gleichzeitig gerne als Bühne und auch wegen der Gelder nutzen. Entscheidend ist die Frage: In welchem Europa möchten wir eigentlich leben? Wenn man sich die geopolitische Lage ansieht, liegt es geradezu auf der Hand, dass die Rückkehr zum Nationalstaat nicht der richtige Weg sein kann. Wozu Populismus führen kann, haben wir in Großbritannien gesehen. Denn der Brexit war eine Populismuskampagne. Ohne den Binnenmarkt würden wir auch weltwirtschaftlich an Bedeutung verlieren. Das bekommen die Briten nun bitter zu spüren. Sie merken jetzt, dass sie vor dem Referendum einer Stimmungsmache aufgesessen sind.

Ein Großteil unserer Gesetze wird in Brüssel gemacht. Ist das nicht doch ein Souveränitätsverlust der einzelnen Nationen?

Das wird gerne gemacht: über Bande gespielt und mit dem Finger auf Brüssel gezeigt. Aber im Rat sitzen ja die Vertreter unserer Regierung. Es gibt keine Gesetze, die einfach so über uns kommen. Sie werden ja abgestimmt – im EU-Parlament, mit der EU-Kommission, im Rat. Die FDP hat ja einige Dinge blockiert. Das zeigt doch nur, dass eine Blockade möglich ist. Es gibt Dinge, bei denen Einstimmigkeit erforderlich ist. Da kann schon eine Enthaltung viel bewirken. Wenn man immer wieder auf Brüssel verweist und sagt: Wir haben das gar nicht gemacht, das kommt alles von oben, wir können dagegen nichts machen, dann ist das in den meisten Fällen eben einfach nicht richtig. Da müssen wir mehr Redlichkeit einfordern.

Welche rechtlichen Reformen halten Sie auf Dauer für notwendig?

Die EU müsste noch stärker auf die Sozialstaatlichkeit blicken. Die Finanzkrise der EU hat zu viel Armut in den südeuropäischen Staaten geführt. Es darf nicht sein, dass Arbeitsmärkte kaputtgespart werden. Auch für die ökologische Transformation brauchen wir für bestimmte Teile der Bevölkerungsanteile mehr finanziellen Ausgleich. Da kann die EU Gelder zur Verfügung stellen und Programme auflegen.

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