Für ein starkes Europa
Über Ländergrenzen hinweg studieren, forschen und sich austauschen. Für zahlreiche Hochschulen in Europa ist das seit vielen Jahren eine Selbstverständlichkeit
Doch die Zukunft erscheint zunehmend unsicher. Autoritäre Regierungen in Ungarn und Polen, wachsender Rechtsextremismus und Populismus sowie der drohende Brexit in Großbritannien zeigen, dass Europa kein Selbstläufer ist. Die Universität Bremen setzt sich mit ihren Partnerinnen und Partnern dafür ein, den Gedanken eines gemeinsamen und freien Europas zu stärken. Diesen Werten fühlt sie sich verpflichtet.
März 2019: Fast genau zwei Jahre ist es her, dass Großbritannien den schriftlichen Antrag beim Europäischen Rat gestellt hat, aus der Europäischen Union (EU) auszutreten. Während die Abgeordneten in London hitzige Debatten über den Brexit führen, rücken die britische Cardiff University und die Universität Bremen enger zusammen. Sie beschließen die „Bremen-Cardiff-Alliance“ – eine strategische Partnerschaft. Diese bedeutet eine besonders intensive Zusammenarbeit. Forscherinnen und Forscher beider Institutionen haben die Möglichkeit, durch eine Affiliierung komplett in den Lehr- und Forschungsbetreib der jeweils anderen Universität integriert zu werden.
Dadurch erhalten beide Partner den Zugang zum jeweils anderen Wissenschaftssystem im Falle eines harten Brexit. „Die Universität Bremen fühlt sich verpflichtet, die Idee eines vereinten Europas zu unterstützen“, sagt Rektor Professor Bernd Scholz-Reiter der Universität Bremen. „Unsere Verbindungen zu britischen Universitäten sind vor dem Hintergrund des Brexit, der wachsenden Isolation und des Nationalismus in Europa besonders wichtig.“ Daher sei die Kooperation mit der Cardiff University von besonderer Bedeutung. „Europa ist eine Idee, für die es sich zu kämpfen lohnt“, so der Rektor.
„Die Universität Bremen fühlt sich verpflichtet, die Idee eines vereinten Europas zu unterstützen.“
Rektor Professor Bernd Scholz-Reiter
Vice-Chancellor Professor Colin Riordan der Cardiff University fügt hinzu: „Mit dieser Allianz reagieren wir auf die komplexen Anforderungen des Brexit, indem wir die Beziehungen zu einem unserer langjährigen europäischen Partner stärken und sicherstellen, dass unsere jeweiligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Studierende weiterhin Zugang zu einer Vielzahl von spannenden Bildungs- und Forschungsmöglichkeiten haben.“
Partneruniversitäten aus dem Netzwerk YERUN
Wissenschaftsfreiheit in Ungarn bedroht
„Ich habe den Eindruck, dass die zähen Verhandlungen über den Brexit andere EU-kritische Regierungen davor abschrecken, mit einem Austritt zu liebäugeln oder gar mit einer solchen Option Politik zu machen“, sagt Professorin Shalini Randeria. Die international anerkannte Sozialanthropologin, Ethnologin und Soziologin hat an der Universität Bremen zurzeit eine Gastprofessur im Rahmen der „U Bremen Excellence Chairs“ inne.
Die Rektorin des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen in Wien und Professorin am Graduate Institute for International and Development Studies in Genf beobachtet die jüngsten politischen Entwicklungen in Europa besorgt – insbesondere in dem EU-Mitgliedstaat Ungarn. Dort hat die rechtskonservative Regierung nicht nur die Kontrolle der Medien und der Justiz weitestgehend übernommen. Auch die Wissenschaftsfreiheit ist nicht mehr gewährleistet. Dies zeige die Situation der Central European University (CEU) in Budapest, aber auch die der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, so Shalini Randeria. Die Regierung hat die international renommierte Privatuniversität in den vergangenen Jahren so stark unter Druck gesetzt, dass es zurzeit unklar ist, ob sie ihren Standort in Budapest aufgeben muss. Zu Redaktionsschluss dieser Ausgabe war noch nichts entschieden. Fest steht, dass die Hochschule zumindest teilweise nach Wien ziehen wird. „Die CEU ist ein weltweit herausragender Studienort für Masterstudierende und Doktoranden der Geistes- und Sozialwissenschaften. Der kosmopolitische Geist der Universität macht sie zum Dorn im Auge des nationalistischen Orbán-Regimes“, so die Wissenschaftlerin. Shalini Randeria ist mit der CEU eng verbunden. Im Jahr 2000 war die Wissenschaftlerin dort Gründungsdirektorin des Instituts für Sozialanthropologie und Soziologie. Mittlerweile ist sie Mitglied des Hochschulkuratoriums der Privatuniversität.
Europa bedeutet für mich:
Etwas, das renovierungsbedürftig ist. Eigentlich steht Europa in meinen Augen für Länder, die sich vor einiger Zeit zusammengetan haben, um Grenzkontrollen zu reduzieren, um im Austausch zu stehen und füreinander einzustehen. In letzter Zeit bedeutet Europa für mich eher das Gegenteil. Grenzen haben sich immer mehr verstärkt. Ein Beispiel ist die Entwicklung in der Geflüchteten-Thematik. Ich fühle mich nicht unbedingt als Europäerin. Ich fühle mich generell nicht einem Nationenkonzept verbunden. Ich würde mich aber eher als Europäerin, denn als Deutsche bezeichnen, weil ich einfach in Europa lebe und davon profitiere. Trotzdem würde ich mir nicht das „Label“ Europäerin geben.
Maimuna Sallah, Studentin
Europa bedeutet für mich:
Freiheit, Internationalität, Freundschaft und Zukunft. Ich fühle mich als Bremer, Deutscher und Europäer. Man muss aber natürlich aufpassen, dass alle Menschen mitgenommen werden. Wir sind an der Universität und stammen aus einem Gesellschaftsbereich, der Bildung genießen darf und das bewusst wahrnimmt. Andere Menschen sind nicht in dieser privilegierten Situation. Diese Menschen ernst zu nehmen und ihnen die positiven Aspekte von Europa zu zeigen, ist eine wichtige Aufgabe. Die haben vor allem wir, die Verantwortung im Bildungsbereich übernehmen.
Max Schlenker, Wissenschaftler
Kein Einzelfall
„Die CEU stellt hierbei keineswegs einen Einzelfall dar“, betont Shalini Randeria. Die Autonomie aller Universitäten des Landes werde systematisch untergraben. Mit dem Ziel, den Einfluss der Regierung zu erhöhen, seien die Investitionen in den ungarischen Bildungssektor seit 2006 kontinuierlich gekürzt worden – auch um parteinahe „Kanzler“ zur Verwaltung der Finanzen an den Hochschulen einzusetzen. Diesen Prozess der Aushöhlung der Wissenschaftsfreiheit habe die Regierung systematisch und schleichend vollzogen. „Die EU hätte hier deutlich früher eingreifen müssen“, urteilt die Wissenschaftlerin. Man könne nur hoffen, dass sich die Situation für die ungarischen Wissenschaftseinrichtungen nicht so dramatisch zuspitze wie in der Türkei.
Dort mussten seit dem Putschversuch 2016 zahlreiche Forscherinnen und Forscher das Land verlassen, wurden inhaftiert oder verurteilt. „Sie verloren ihre Stellen, ihre Pensionen und ihre Arbeitsmöglichkeiten“, sagt Professorin Michi Knecht. Die Ethnologin beteiligt sich mit mehreren Professorinnen und Professoren der Universität Bremen an der Philipp-Schwartz-Initiative „Scholars at Risk“ der Alexander von Humboldt-Stiftung. Bedrohte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erhalten in diesem Programm Stipendien und Arbeitsmöglichkeiten. Shalini Randeria sagt anerkennend: „Die Bremer Universität war eine der ersten Hochschulen in Deutschland, die hier aktiv wurde. Das ist ein wichtiges Engagement für die Verteidigung der Wissenschaftsfreiheit“.
Europa bedeutet für mich:
eine kulturelle Ausrichtung: wie wir uns organisieren im Alltag, wie wir kulturell geprägt sind. Ich fühle mich sehr europäisch. Ich habe zwar Eltern mit türkischem Migrationshintergrund. Aber ich würde sagen, dass die auch sehr europäisiert sind. Allerdings fallen mir mehrere Dimensionen ein, wenn ich das Wort Europa höre: einmal die historische und kulturelle, also gemeinsame europäische Werte. Dann denke ich natürlich auch an die EU – etwa an die Länder, die der Zollunion und Währungsunion angehören. Darüber hinaus gibt es die geografische Dimension.
*Tolga Yavuz, Student**
EU-Projekt über Demokratie
Wie fragil die demokratische Kultur in Europa ist, hat Professor Andreas Klee, Direktor des Zentrums für Arbeit und Politik (zap) der Universität Bremen, im Rahmen eines EU-Projekts erlebt. Mit Partnerinnen und Partnern in Krakau (Polen), Budapest (Ungarn), Sevilla (Spanien) und Aarhus (Dänemark) haben er und sein Team unterschiedliche demokratiefördernde Lernformate für Jugendliche entwickelt und erprobt. Ziel war es, Radikalisierungstendenzen entgegenzuwirken und herauszufinden, wie relevant gesellschaftliche Kontexte für die jeweiligen Lernformate sind. Unter dem Titel „Street Education“ organisierten sie Info-Stände, um mit Bürgerinnen und Bürgern auf öffentlichen Plätzen ins Gespräch zu kommen. Sie entwickelten Workshops für eine „Demokratiewerkstatt“ und erarbeiteten Ausbildungsformate für Lehramtsstudierende zu „Demokratie-Coaches“.
„Jeder von uns muss sich dafür einsetzen, Europa zu stärken.“
Professor Andreas Klee
Während in Bremen intensiv öffentlich diskutiert wurde, mussten die Partnerinnen und Partner in Krakau und Budapest ihre Aktivitäten den politischen Umständen im Land anpassen. „Auf öffentlichen Plätzen über demokratiefördernde Themen zu sprechen, ist nicht drin“, berichtet Klee. Nach dem Ende des Sozialismus wurde in Polen und Ungarn die Demokratie gefeiert. Nun erlebe man dort verstärkt demokratiefeindliche Haltungen. „Das ist erschreckend.“ Im dänischen Aarhus sei man sich der Stabilität der Demokratie vielleicht zu sicher. Denn eine Skepsis gegenüber Europa und rechtspopulistische Tendenzen seien durchaus ein Thema. Auch in Sevilla zeigte sich die innenpolitische Situation in den Diskussionen. „Es wurde deutlich, wie groß die Spannung auf Grund der großen Ungleichheit und Arbeitslosigkeit in Spanien ist“, so der Wissenschaftler. Das Projekt habe gezeigt, dass Demokratie in Europa – zumindest in den beteiligten Ländern – keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Für Andreas Klee ist klar: „Jeder von uns muss sich dafür einsetzen, Europa zu stärken.“
„Wir wollen starke europäische Identitäten fördern.“
Konrektorin für Internationalität und Diversität, Professorin Eva-Maria Feichtner
Für eine europäische Universität
Was kann Europa in Zukunft wieder zu einer stabilen Gemeinschaft werden lassen? Was können Hochschulen dazu beitragen? Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hat in seiner Rede an der Sorbonne im Herbst 2017 die Bildung Europäischer Netzwerkuniversitäten angeregt. Diese sollen sich durch multilinguale, innovative Studienangebote auszeichnen und damit die europäische Idee fördern. Ziel einer Pilotausschreibung der EU ist es nun, bis 2024 insgesamt 20 Europäische Netzwerkuniversitäten zu bilden. Deren Absolventinnen und Absolventen werden mehrsprachig und mobil sein und europäische Werte leben. Die Universität Bremen hat sich mit sieben Universitäten aus anderen europäischen Ländern als Konsortium der „Young Universities for the Future of Europe (YUFE)“ an dieser Ausschreibung beteiligt. „Damit haben wir ein starkes Bekenntnis zu Europa abgegeben“, sagt Rektor Scholz-Reiter.
Aus der Allianz der acht Universitäten soll eine Europäische Universität entstehen, die in erster Linie neue und innovative Angebote für ihre Studierenden schafft. Zudem will man die Möglichkeiten für das Personal in Wissenschaft sowie in Technik und Verwaltung erweitern. „Unser Ziel ist es, das gegenseitige voneinander Lernen und Verstehen über Institutionen, Regionen und Kulturen in Europa hinweg zu stärken“, sagt die Konrektorin für Internationalität und Diversität, Professorin Eva-Maria Feichtner. „Damit fördern wir starke europäische Identitäten.“ YUFE-Studierende sollen die Möglichkeit bekommen, unkompliziert und ohne Hindernisse zwischen den Standorten der beteiligten Partner zu wechseln, in mehr als einer Sprache zu lernen und sich in verschiedenen europäischen Kulturen zu bewegen. Beschäftigten der YUFE-Partner will man neue Karrierepfade eröffnen, die über institutionelle, regionale und nationale Grenzen hinausgehen und flexibel temporäre oder dauerhafte Wechsel zwischen den beteiligten Partnern erleichtern.
Europa bedeutet für mich:
durch Kulturaustausch und Handel andere Menschen und Länder besser kennen lernen zu können. Dafür finde ich Europa sehr wichtig. Ich würde mich eher als Befürworter bezeichnen und Europa weiter stärken wollen. Ich glaube auch, dass Europa als Gegenpol zu den USA, zu China und zu anderen großen Nationen wichtig ist, da man gemeinsam mehr voranbringen kann, als jedes Land einzeln für sich.
*Timo Urban, Student**
Die YUFE-Allianz besteht aus den Universitäten Maastricht, Antwerpen, Bremen, Carlos III Madrid, Eastern Finland, Essex, Roma Tor Vergata und Zypern. Ist ihr Antrag erfolgreich, wird das Projekt ab September 2019 umgesetzt. Ihre Ziele können nicht von einem Tag auf den anderen erreicht werden. Dies wird längere Zeit in Anspruch nehmen und benötigt auch die Unterstützung der Politik sowie von Bürgerinnen und Bürgern. Klar ist jedoch: „Europa braucht starke Universitäten, die den europäischen Gedanken mit Leben füllen“, so der Rektor der Universität Bremen.
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