HIQO – das Fake-Wasser für den Chemieunterricht
Preisgekröntes Konzept schlägt Brücke zwischen Wissenschaft und sozialen Medien
Auf sozialen Medien wie Instagram oder TikTok werden Jugendliche oft mit Falschinformationen konfrontiert. Das betrifft nicht nur politische oder gesellschaftliche, sondern auch naturwissenschaftliche Themen. Die Chemiedidaktiker:innen Dr. Nadja Belova und Dr. Moritz Krause haben eine Unterrichtseinheit entwickelt, um Jugendliche hierfür zu sensibilisieren. Im Zentrum steht ein Fake-Produkt, das die Schüler:innen gemeinsam entlarven.
Eine Chemiestunde der anderen Art: Für ihre Klasse hat die Lehrerin ein besonderes Wasser mitgebracht. Was nach gewöhnlichem Leitungswasser aussieht, sei mit einem speziellen Leitfähigkeitsextrakt angereichert, erklärt sie. Der trage dazu bei, dass sich die Gehirnzellen stärker vernetzten und man sich besser konzentrieren könne. Sogar einen eigenen Instagram-Kanal hat das Wasser, den sich die Jugendlichen gemeinsam anschauen.
Doch beim genaueren Hinsehen werden einige von ihnen stutzig. Warum finden sich nur vereinzelte Angaben zu den Studien, die angeblich die Wirksamkeit des Wassers beweisen? Sollen unverständliche Fachbegriffe eventuell darüber hinwegtäuschen, dass ein Nachweis für die Wirkung des Wassers fehlt? Schließlich lüftet die Lehrerin das Geheimnis: HIQO, das Wasser mit Leitfähigkeitsextrakt, ist ein frei erfundenes Produkt. Mit den Jugendlichen spricht sie über Kriterien, mit denen sie zukünftig leichter Falschinformationen auf den sozialen Medien identifizieren können.
Preisgekröntes Unterrichtskonzept
Für das Konzept dieser Unterrichtseinheit haben die Chemiedidaktiker:innen Dr. Nadja Belova und Dr. Moritz Krause Ende 2022 den Sonderpreis des Polytechnikpreises erhalten. Ausgeschrieben von der Stiftung Polytechnische Gesellschaft, wurden Konzepte zum Einsatz von digitalen Medien in naturwissenschaftlich-technischen Fächern ausgezeichnet. Mit diesem Themenkomplex beschäftigten sich Moritz Krause und Nadja Belova schon lange. Beide haben dazu bei Ingo Eilks, Professor für Didaktik der Chemie am Fachbereich Biologie und Chemie der Universität Bremen, promoviert.
Aktuell forscht Nadja Belova als akademische Rätin an der Universität Bremen beispielsweise zu kritischer Medienbildung im naturwissenschaftlichen Unterricht und betreut in diesem Zusammenhang auch Forschungsprojekte von Studierenden. Moritz Krause arbeitet nicht nur als Lehrer für Biologie und Chemie am Schulzentrum Geschwister Scholl Gymnasiale Oberstufe Bremerhaven, er ist auch teilabgeordnete Lehrkraft an der Universität Bremen. In dieser Funktion unterstützt er beispielsweise Studierende dabei, für ihre Abschlussarbeiten Lehrkonzepte zu entwickeln und praktisch zu erproben.
Soziale Medien: Neuland im Chemieunterricht
Die Lehreinheit zu HIQO entwickelten die beiden Forschenden im Rahmen einer Förderung des Kollegs Didaktik:digital der Joachim Herz Stiftung. Es bietet Lehrkräften und Forschenden finanzielle Förderung und Möglichkeiten zum gegenseitigen Austausch, um Lehrmodule oder Forschungsvorhaben zum Einsatz von digitalen Medien im naturwissenschaftlichen Unterricht zu entwickeln. Ein Gebiet, in dem sich in den vergangenen Jahren viel getan habe, sagt Moritz Krause. „Das liegt nicht zuletzt daran, dass im Zuge der Corona-Pandemie für alle Schüler:innen im Land Bremen Tablets angeschafft worden sind.“
„Digitale Medien sind im naturwissenschaftlichen Unterricht vor allem als Hilfsmittel, kaum als Unterrichtsgegenstand präsent“
Experimente zu filmen oder digitale Versuchsprotokolle zu erstellen, das gehört für viele Jugendliche inzwischen selbstverständlich zum Chemieunterricht dazu. „Allerdings sind digitale Medien im naturwissenschaftlichen Unterricht vor allem als Hilfsmittel präsent und werden kaum als Unterrichtsgegenstand thematisiert“, merkt Nadja Belova an. Aus ihrer Sicht ist das ein großes Defizit. Schließlich werden Jugendliche auf Instagram oder Tiktok tagtäglich mit Versprechen oder Falschinformationen konfrontiert, die einen naturwissenschaftlichen Hintergrund haben. Etwa wenn es um die vermeintlich schädliche Wirkung von Fluorid in Zahnpasta geht. Oder um Fastenkuren, mit denen man den Körper angeblich entschlacken kann.
Lernen mit emotionalen Erlebnissen
Die Unterrichtseinheit zu HIQO entwickelten die Forschenden, um diesem Defizit entgegenzuwirken. Unterrichtskonzept und Flaschendesign entwarfen sie zu zweit. „Wir haben auch einen ersten Entwurf für einen Instagram-Account erstellt, aber die Schüler:innen erkannten sofort, dass der nicht echt war“, sagt Moritz Krause. Also setzten er und Nadja Belova den Account neu auf und ließen sich bei der Gestaltung von Jugendlichen unterstützen.
Die Unterrichtseinheit basiert auf Lehrstoff zu Ionen, der in Bremen in der Regel in der 9. Klasse behandelt wird. „Löst man Salze in Wasser, werden Ionen, also elektrisch geladene Atome oder Moleküle, frei, und die Lösung wird elektrisch leitfähig“, erklärt Nadja Belova. Auch Nervenzellen im Gehirn sind umgeben von Ionen, durch deren Austausch Informationen weitergegeben werden. Vor diesem Hintergrund mag es für viele Jugendliche erst einmal plausibel klingen, dass ein bestimmtes Extrakt das Gehirn leistungsfähiger machen kann. Wenn das Fake dann aufgedeckt wird, ist die Überraschung daher umso größer – ein Effekt, mit dem Moritz Krause und Nadja Belova bewusst spielen. „Wir prägen uns Informationen leichter ein, wenn sie mit Emotionen verknüpft sind“, sagt Moritz Krause.
Mit Fortbildungen Hürden abbauen
Damit die Schüler:innen möglichst langfristig von der Unterrichtseinheit profitieren, haben Moritz Krause und Nadja Belova eine Website für sie entwickelt. Darauf nennen sie Kriterien, anhand derer sich Falschinformationen auf Social Media identifizieren lassen: Werden vertrauenswürdige Quellen aufgeführt? Wenn auf wissenschaftliche Studien Bezug genommen wird: Werden die Studienbedingungen, etwa die Anzahl der Teilnehmenden, genannt? Sind die Informationen nüchtern, oder werden bewusst Emotionen geschürt?
Nadja Belova und Moritz Krause evaluierten das Konzept mit 106 Jugendlichen. Dabei untersuchten sie mittels eines Fragebogens die kritische Reflexionsfähigkeit in Bezug auf naturwissenschaftliche Informationen. Das Ergebnis: Die Teilnehmenden der Unterrichtseinheit schnitten hier deutlich besser ab als andere Jugendliche aus einer Kontrollgruppe. „Wissenschaftliche Studien zeigen aber auch, dass solche Lehreinheiten wiederholt werden müssen, damit die Jugendlichen langfristig von ihnen profitieren“, sagt Nadja Belova. Ein Hindernis dabei sei, dass nicht alle Lehrkräfte soziale Medien im Unterricht thematisieren wollen. Insbesondere diejenigen, die selbst kaum Social Media nutzen, sind skeptisch. Das fand Nadja Belova mit drei Studierenden in einer Interviewstudie heraus. Aus diesem Grund bilden sie und Moritz Krause Fortbildungen zu digitalen Medien an, in denen sie auch die Lehreinheit thematisieren.
Ein weiteres Hindernis: „Viele Lehrkräfte denken sehr fachorientiert, mit Blick auf die nächste Klausur oder die Abiturprüfungen“, sagt Moritz Krause. Dort seien Kompetenzen zu sozialen Medien aber kaum gefragt. Nicht zuletzt aus diesem Grund haben die beiden Forschenden die Lehreinheit so entwickelt, dass sie sich in einem relativ kurzen Zeitraum – etwa einer Doppelstunde vor den Ferien – umsetzen lässt. „Die Jugendlichen sollen erfahren, dass Chemie etwas mit ihrem täglichen Leben zu tun hat“, sagt Nadja Belova. Sie ist überzeugt: Wer diese Relevanz einmal verstanden hat, lässt sich auch ansonsten eher für das Fach begeistern.