Klassismus an der Uni: Ein verkanntes Problem?
Im Gespräch mit den Forscher:innen Ayla Satilmis und Margrit Kaufmann sowie dem Studenten Dominik über Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit an der Uni
An einer Universität spielt die Herkunft keine Rolle mehr – dieser These würden viele widersprechen. So auch Dominik Lange, Ayla Satilmis und Margrit Kaufmann. up2date. hat sich mit den drei Uni-Angehörigen über Klassismus, also die Diskriminierung aufgrund von Klassenzugehörigkeit, wie dem entgegengewirkt werden könnte und eigenen Erfahrungen unterhalten.
Was Nachhaltigkeit und Soziales miteinander zu tun haben
Dominik Lange setzt sich für mehr Nachhaltigkeit an der Uni und in der Gesellschaft ein. Nicht nur für die ökologische, sondern auch die soziale Nachhaltigkeit. „Die zentrale Frage ist, wie wir mit den Ressourcen, die wir heute haben, so umgehen, dass sie auch in Zukunft noch eingesetzt werden können. Dazu gehören auch gesunde Arbeitsverhältnisse oder die Abschaffung von Diskriminierung. Nachhaltigkeit darf nicht bei technischen Fragen aufhören, sondern muss auch soziale Aspekte umfassen“, fasst Lange zusammen.
Ein Grundproblem ist, so erklärt Ayla Satilmis, Verantwortliche des Projekts “enterscience” mit Fokus auf Intersektionalität im wissenschaftlichen Betrieb, „dass durch die Fokussierung auf ökologische und ökonomische Fragen die soziale Dimension von Nachhaltigkeit oftmals unterbeleuchtet bleibt. Die Wechselwirkungen zwischen sozialer Gerechtigkeit und nachhaltigen Transformationen werden insgesamt noch zu wenig thematisiert“. Sie plädiert für ein vielschichtiges Nachhaltigkeitsverständnis, das die Klimakrise im Zusammenhang mit Rassismus, Klassismus und dem Abbau sozialer und gesellschaftlicher Ungleichheiten begreift.
Doch wie äußert sich dies im Kontext von Klassismus, wie macht sich Diskriminierung aufgrund von sozialer Herkunft im Unibetrieb bemerkbar? Haben Studierende aus nicht-akademischen Familien wirklich Nachteile aufgrund ihrer Herkunft? Und woran lässt sich das festmachen? Mit diesen Fragen befassen sich Margrit Kaufmann und Ayla Satilmis. „Wenn es beispielsweise um die Studienabbruchquote geht, wird oft gesagt, dass bestimmte Studierendengruppen nicht motiviert oder gut genug sind. Die strukturellen Probleme werden dabei nicht beachtet. Zum Beispiel müssen Studierende ohne finanzstarke Eltern im Hintergrund viel härter arbeiten, um sich das Studium leisten zu können. Dies wird im Wissenschaftsbereich oft vergessen. Die ungleichen Studienbedingungen zu reflektieren, ist grundlegend für gute Lehre und auch eine zentrale didaktische Aufgabe, die noch zu wenig Beachtung erfährt“, erklärt Ayla Satilmis.
Margrit Kaufmann sieht in diesem Zusammenhang auch ein klares Problem der Vereinzelung: „Scham verhindert, dass über Klassismuserfahrungen gesprochen wird. Die Studierenden agieren oft als Einzelkämpfer:innen, da es noch kein gemeinsames Wording für ihre Probleme gibt. Es müsste anerkannter sein, dass Bildungsgerechtigkeit noch nicht erreicht ist, sondern ein Ziel, das angestrebt wird.“
Aber wie könnte ein besserer Zustand aussehen? Dominik Lange ist davon überzeugt, dass Studierende mehr ermutigt werden sollten, sich zu engagieren: „Dazu müssen auch die Bedingungen geschaffen werden, wie beispielsweise Sitzungsgelder für hochschulpolitisches Engagement, um ihre Ausfälle zu kompensieren. Viele sind sich des Problems gar nicht bewusst, dass Studis auch andere Verpflichtungen haben. Eine Entschädigung dafür macht in vielen Fällen ein Engagement erst möglich.“
Viele Studierende haben keine Begrifflichkeiten für klassistische Diskriminierung
In diesem Zusammenhang stellte Margrit Kaufmann ein Projekt aus ihrer Forschung vor. Studierende der Kulturwissenschaft haben im Sommersemester 2022 zu Erfahrungen von Rassismus und Klassismus auf dem Campus geforscht und kamen zu einer überraschenden Erkenntnis: „Viele der Befragten haben ein diffuses Gefühl „anders“ zu sein und Othering-Erfahrungen, die sie auf ihre nicht-akademische Herkunft zurückführen. Die Universität erscheint zuerst als Befreiung vom System Schule und als ein Ort, an dem sie sich endlich angekommen fühlen. Im Studienverlauf zeigt sich die Universität erneut als ein hürdenreicher Ort, an dem Studierende mit geringerem ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital viel mehr als andere zu leisten haben“, erklärt Kaufmann.
Dominik Lange, der nach der Realschule das Abitur gemacht hat, berichtet von seinem widersprüchlichen Erleben an der Universität. Er fühlte sich einerseits endlich angekommen, aber gleichzeitig nicht dazugehörig. Auch Ayla Satilmis sieht diese Tendenzen: „Obwohl viele Studierende aus nicht-akademischen Familien ähnliche Erfahrungen machen, werden diese Probleme nicht als strukturelles Problem wahrgenommen“.
Aus diesen Erfahrungen entsteht dann oftmals ein defizitärer Blick auf sich selbst, der das Gefühl vermittelt, nicht richtig dazugehörig zu sein. Ayla Satilmis hat einige Ideen, wie man dieses Problem angehen könnte: „Ungleichheitsreflektierende Lehre und bessere Betreuung der Studierenden durch diversitätsbewusste Lehrende wären wichtige Schritte, um strukturell benachteiligte Studierende zu stärken. Doch oft ist es in der Regel so, dass gerade diejenigen, die Beratung brauchen, diese nicht erhalten – und kaum „role models“ im Unibetrieb finden. Auch müssen Lehrende darin geschult werden, nicht nur auf Defizite zu achten, sondern auch auf die Stärken der Studierenden zu schauen und ihre Lernfortschritte wahrzunehmen. Ein weiteres Problem sind prekarisierte Arbeitsverhältnisse, die mit großen Planungsunsicherheiten für Lehrende und Studierende einhergehen und dazu führen, dass gesellschaftlich privilegierte Positionen sich reproduzieren.“
„Es ist aber auch eine Aufbruchsstimmung zu erkennen“
Im Gespräch wurde allerdings auch die Aufbruchsstimmung betont, die an der Uni Bremen herrscht. Ayla Satilmis meint dazu: „Die aktuellen Entwicklungen zeigen einen Wandel auf. Themen, die noch vor einigen Jahren ignoriert wurden, werden jetzt vermehrt diskutiert, wie zum Beispiel Rassismus, Klassismus oder Antidiskriminierung. Auch das Engagement der neuen Hochschulleitung für Nachhaltigkeit würde ich dazu zählen, welches bereits jetzt positive Veränderungen bewirkt.“ Ein Beispiel dafür sind kooperative Lehrforschungsprojekte zu den Themen und die neuen Angebote in der Hochschuldidaktik, die auf großes Interesse stoßen. Lehrende werden darin geschult, wie Lehre und Studium nachhaltiger gestaltet werden können und wie diversitätsreflektierende Lehrsettings aussehen. Satilmis ist in diesem Projekt federführend.
Angebote der Uni Bremen
Es gibt einige Angebote, die ihr als Betroffene von Diskriminierung aufgrund von Klassenzugehörigkeit in Anspruch nehmen könnt. Man kann beispielsweise über das Probestudium auch ohne Hochschulzugangsberechtigung ein Studium beginnen, wenn bestimmte berufliche Qualifikationen erfüllt werden. Außerdem gibt es viele Stipendien und Fördermöglichkeiten. Seit dem 1. April 2023 hat sich auch im AStA ein Referat gegründet, welches insbesondere das Thema Antiklassismus behandelt. Dieses ist unter folgender E-Mail-Adresse erreichbar: antiklassismusref@disroot.org
Themenmonat Nachhaltigkeit
Seit ihrer Gründung 1971 steht die Uni Bremen für gesellschaftliche Verantwortung. Klimaschutz und Nachhaltigkeit sind grundlegende Leitprinzipien der Universität: in Forschung, Lehre und Betrieb. Im Onlinemagazin up2date. der Uni Bremen steht im Mai das Thema Nachhaltigkeit daher im Fokus. Der Themenmonat beleuchtet aktuelle Projekte, Fragen und Herausforderungen.