Kleiner Turm ganz groß
1,85 Millionen Euro investiert, um zweieinhalb Sekunden Schwerelosigkeit zu bekommen: Das ZARM hat einen neuen Fallturm in Betrieb genommen
Den großen sieht man, er ist zu einem Wahrzeichen der Stadt geworden – die Rede ist vom Fallturm der Universität Bremen. Nun schmiegt sich eine kleinere Version an ihn, aber die hat es in sich. Während im großen Fallturm nur drei Flüge am Tag möglich sind, kann im neuen schnelleren Fallturm in diesem Zeitraum theoretisch fast tausendmal geflogen werden.
Zehn Jahre ist es her, da studierte Dr. Andreas Gierse noch Flugzeugbau an der FH Aachen. Dass er einmal einen hochmodernen Fallturm mit ausgeklügelter Technik konstruieren würde, wusste er damals noch nicht – obwohl es ihn schon zur Raumfahrttechnologie hinzog. „Über das REXUS-Programm der Europäischen Weltraumorganisation ESA habe ich letztlich Kontakt zum Zentrum für angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation (ZARM) der Universität Bremen bekommen“, erinnert sich Gierse. REXUS steht für „Raketen- und Ballon-Experimente für Universitäts-Studierende“ und soll den Nachwuchs an die Raumfahrttechnologie heranführen.
Zu diesem Zeitpunkt existierte der Fallturm der Universität Bremen schon 22 Jahre. Eine leistungsfähige und international anerkannte Forschungsplattform, die qualitativ hochwertige Experimente mit bis zu 9,3 Sekunden Schwerelosigkeit zulässt. Die größte Einschränkung: In dem 146 Meter hohen Turm sind nur drei Flüge pro Tag möglich. „In der 120 Meter langen Fallröhre müssen wir jedes Mal ein Vakuum erzeugen, bevor wir das Experiment per Katapult nach oben schießen und dann wieder in ein Bad mit Styroporbällen zurückfallen lassen. Das dauert seine Zeit“, so Gierse. Aber Schwerelosigkeit auf der Erde ist immer noch günstiger als im Weltraum, etwa auf der Internationalen Raumstation ISS. Mehr als ein Jahr im Voraus ist der große Fallturm deshalb bereits für Experimente gebucht.
Öfter und einfacher bei hoher Qualität
Öfter und einfacher – und das bei hoher Qualität: das war die Herausforderung für Gierse, als er zum ZARM wechselte. Als Projektleiter entwickelte er fünf Jahre lang das technologische Herzstück für einen schnelleren Fallturm: einen aufwändigen Entkopplungsmechanismus. Davon baute er zusammen mit seinem Team zunächst ein funktionsfähiges Modell. Das überzeugte die ZARM FAB-Geschäftsleitung, in den Bau des neuen Labors zu investieren – was dann weitere fünf Jahre dauerte. Über dieses wichtige Bauteil des 16 Meter hohen Turms, der offiziell „GraviTower Bremen Pro“ heißt, schrieb Gierse seine Doktorarbeit. Mit Fug und Recht lässt sich behaupten, dass die neue Forschungsplattform „sein Kind ist“.
„Wissenschaft und damit Erkenntnisgewinn findet immer an der Grenze des Bekannten statt“, erklärt Andreas Gierse. „Um aussagekräftigere Ergebnisse zu bekommen, muss man Versuche so oft wie möglich wiederholen – mit verschiedenen Variablen, unter verschiedenen Bedingungen, mit verschiedenen Ansätzen. Je mehr Wiederholungen, desto mehr schärft sich das Bild.“ Zum besseren Verständnis: Eine Meinungsumfrage mit 300 Befragten ist auch wesentlich aussagekräftiger als eine Umfrage mit nur drei Beteiligten.
„Der Bedarf nach mehr Flügen war schon lange vorhanden. Vor zehn Jahren hieß es: Die Anzahl müsste mindestens um den Faktor 30 erhöht werden, damit man mit den Experimenten hier auf das Niveau von Laborexperimenten kommt.“ Also am besten 90 oder 100 Versuche an einem Tag – so der Wunsch der Forschenden.
Heute ist das kein Problem mehr. „300 Flüge am Tag können wir garantieren, und wir sind noch in der Anfangsphase. Bald wollen wir in Richtung 1.000 gehen“, so Raumfahrtexperte Gierse. Dabei spielen Dinge wie Automatisierung und maschinelles Lernen eine wichtige Rolle. Künstliche Intelligenz soll die riesigen Datenmengen auswerten helfen und die Experimente präziser steuern. Noch stehen Mitarbeitende des ZARM helfend zur Seite, wenn Forschende aus ganz Europa und darüber hinaus mit dem GraviTower arbeiten. Bald sollen die Versuche aber 24 Stunden am Tag ohne „menschliche Begleitung“ ablaufen können.
Ausgeklügeltes System ist mittlerweile patentiert
Wie das alles abläuft, ist für den Laien kaum vorstellbar. Schaut man sich die Versuchsaufbauten an, sieht man nur jede Menge Elektronik in einer präzise gestalteten Umgebung, ein paar bunte Lampen, die den Status des Versuchs widerspiegeln, und große Bildschirme mit Einstellungen und Ergebnissen. Wichtig ist dabei, was in dem neuen Labor läuft – und dass bei den Experimenten in ihm kein Vakuum benötigt wird.
„Kein anderer Fallturm weltweit erlaubt derart qualitativ hochwertige Versuche mit einer solchen Frequenz.“ Dr. Andreas Gierse, Projektleiter GraviTower im ZARM
„Ganz einfach dargestellt: Wir schießen die Kapsel hoch und lassen sie wieder fallen“, erläutert Gierse. Die Hydraulik feuert den Schlitten mit dem Versuchsaufbau mit fünffacher Erdbeschleunigung nach oben, was nicht einmal eine Sekunde dauert. Der Raumfahrttechnologe: „Trotz der irrsinnigen Kräfte, die dabei wirken, darf es für das Experiment selbst keine Erschütterungen geben.“ Dazu wird das Experiment durch das besagte Herzstück der Anlage bereits während der Beschleunigungsphase effektiv mechanisch vom Schlitten getrennt und nach der Beschleunigung vollständig „ausgeklinkt“. Dann schwebt es für zweieinhalb Sekunden berührungslos im Raum – mit der Kapsel drumherum, die sich exakt so mitbewegen muss, dass es zu keinem Kontakt mit dem Versuchsaufbau kommt. Dieser Ablauf wird unter anderem in Sekundenbruchteilen mit Lasern und Abstandssensoren gesteuert. Er war Bestandteil der Promotion von Andreas Gierse und ist natürlich mittlerweile patentiert.
„In diesen zweieinhalb Sekunden ist das Experiment schwerelos – so wie wir für einen kurzen Moment, wenn wir in die Luft springen.“ Der Versuch läuft in dieser Zeit ab. Zum Ende der Schwerelosigkeitsphase wird der Experimentaufbau durch ein zusätzliches System ganz sanft wieder an den Schlitten angekoppelt. Klingt alles nach sehr großen Herausforderungen, um komplizierte Prozesse bei Düsenjet-Geschwindigkeit extrem präzise ablaufen zu lassen. Und so ist es auch – nicht umsonst hat das gesamte Projekt so viele Jahre gedauert, bis es in den Alltags-Forschungsbetrieb überführt werden konnte. „Auch andere Dinge im neuen Fallturm sind sehr speziell“, sagt Andreas Gierse. „Den Antrieb haben wir zum Beispiel mit unserem Partner Bosch-Rexroth zusammen entwickelt. Da haben wir auch zwei Jahre aufwändige Simulationen durchgeführt, bis wir in die Nähe der realen Anwendung kamen, die wir heute nutzen.“
Ohne Zweifel ist es also ein technologisches Wunderwerk, das zu Füßen des großen Fallturms neu entstanden ist. Im ZARM ist man deswegen sehr stolz auf diese Entwicklung, die in dieser Form momentan einzigartig ist. „Es gibt mittlerweile eine Menge kleinerer Falltürme weltweit. Aber keiner erlaubt derart qualitativ hochwertige Versuche mit einer solchen Frequenz“, sagt Gierse. Für den Raumfahrt-Standort Bremen sei der GTB definitiv eine weitere Aufwertung.
Ist nach dem Fallturm vor dem Fallturm?
Der Projektchef denkt schon weiter: „Die Anlage funktioniert und ist vollwertig wissenschaftlich nutzbar. Alles ist skalierbar – man könnte einen Fallturm mit dieser Technologie auch größer bauen und dann eine längere Schwerelosigkeit anbieten. Damit haben wir in diesem Augenblick die Möglichkeit, ein neues Zeitalter der erdgebundenen Forschung unter Weltraumbedingungen einzuleiten“ Das Interesse der Wissenschaft wäre da. Natürlich auch aus dem ZARM selbst, wo man die neuen Möglichkeiten vor Ort ebenfalls freudig für die eigene Forschung nutzt. Also noch ein Fallturm für Bremen – einen mittleren vielleicht? Andreas Gierse lacht: „Mal sehen …“
Marsforschung auf dem Campus? Mit dem GraviTower Bremen Pro werden am ZARM nicht nur Experimente in der Schwerelosigkeit durchgeführt - mit ihm lässt sich auch experimentell untersuchen, wie Prozesse unter den Gravitationsbedingungen auf dem Mars ablaufen. Annähernd 1.000 Mal am Tag können Versuche für 3,5 Sekunden einem Drittel der Erdanziehungskraft ausgesetzt werden, genau wie sie auf dem Mars vorherrscht. Darüber hinaus sind auch Experimente in einem Sechstel der Erdanziehungskraft möglich, was den Mondbedingungen entspricht, oder unter noch geringeren Anziehungskräften wie beispielsweise auf Asteroiden.
Von diesen Forschungsmöglichkeiten könnten auch die Forscher:innen von „Humans on Mars“ profitieren: Im Juli 2022 wurde die Initiative „Humans on Mars – Pathways toward a long-term sustainable exploration and settlement of Mars“ gegründet. Hier gehen rund 60 Forschende aus acht Fachbereichen der Frage nach, wie Konzepte für eine langfristige, nachhaltige Erkundung und Besiedelung des Mars durch den Menschen aussehen können. Das Land Bremen fördert die Initiative. Der Anstoß und die Federführung zu „Humans on Mars“ kommt aus dem Wissenschaftsschwerpunkt MAPEX Center for Materials and Processes der Universität Bremen. Eng eingebunden sind darüber hinaus außeruniversitäre Forschungsinstitute der U Bremen Research Alliance.
Weitere Informationen zur Initiative „Humans on Mars“ gibt es auf der Webseite.