
© Jens Lehmkühler
Mathe? Ist doch cool!
Mathematik steckt in vielen Bereichen des Alltags. Das bringt das Projekt MOIN Modellregion Industriemathematik Schüler:innen näher
Mathematik im Alltag erlebbar zu machen, Interesse an dem Fach zu wecken und seine Attraktivität auch in der Schule nachhaltig zu verbessern, ist das Ziel von MOIN, der Modellregion Industriemathematik – etwa durch Beiträge zum neuen Profil „digitale Medizin“ an der Oberschule am Waller Ring. Das von Forschenden aus Mitgliedseinrichtungen der U Bremen Research Alliance entwickelte Projekt will damit auch einen Beitrag leisten zur Stärkung der Innovationskraft in der Region.
Siebte Schulstunde an der Oberschule am Waller Ring: Es war ein langer Tag, aber von Müdigkeit ist im Computerraum wenig zu spüren. Das Bild, das die Mathematikerin Dr. Anna Rörich per Laptop an die Tafel wirft und das die Schüler:innen zeitgleich vor sich auf ihren Bildschirmen haben, weckt deren Interesse. Zu sehen sind MRT-Aufnahmen eines menschlichen Kopfes. Irgendwo in den Schichtbildern ist ein symbolischer Tumor in der Form eines Herzens versteckt. „Versucht es zu finden und möglichst genau zu vermessen“, fordert die Wissenschaftlerin den Kurs auf.

© Jens Lehmkühler / U Bremen Research Alliance
Es dauert nicht lange, da haben die ersten der 24 Schüler:innen des Biologieprofils das Herz entdeckt. Sie nutzen eine einfache, vom Fraunhofer-Institut für Digitale Medizin MEVIS entwickelte Software, wie sie ganz ähnlich auch in radiologischen Praxen zum Einsatz kommt. Nur bei der Bestimmung der Tumorgröße ist das Meinungsbild unterschiedlich. Könnte eine Automatisierung helfen, die Größe zu bestimmen, sodass bei einem bevorstehenden Eingriff nicht zu viel Gewebe entfernt wird? Dies auszuprobieren, ist Gegenstand der nächsten Aufgabe.
Um den Umgang mit digitalen Bildern, um das Kennenlernen von Werkzeugen und Methoden zur Bildanalyse geht es in dieser Unterrichtseinheit. Sie findet im Rahmen eines Probelaufs für eine Innovation in der Bremer Schullandschaft statt: für das erste Profil „digitale Medizin“ an einer gymnasialen Oberstufe. Im Schuljahr 2025/26 wird es an der Oberschule am Waller Ring seine Premiere erleben.
„Digitale Methoden werden im Alltag immer wichtiger, auch in der Gesundheitsversorgung“, sagt Jan Wicke, Biologielehrer und stellvertretender Schulleiter. Grundlage des Unterrichts sind Anwendungsbeispiele mit einem besonderen Augenmerk auf die Mathematik, die von Expert:innen des Fraunhofer MEVIS entwickelt und in Kooperation mit Lehrer:innen der Schule genutzt werden können. Wicke verspricht sich viel von dem Profil. Weil es praxisnah ist und Bezüge zum zukünftigen Berufsalltag in der Medizin herstellt. Weil es seine Schüler:innen für die Berufswelt im Gesundheitssektor qualifiziert.
„Unsere Schülerinnen finden es cool, dass sie es mit hoch qualifizierten und extrem selbstbewussten Frauen zu tun haben.“ Jan Wicke
Und vor allem, weil sie auf Vorbilder treffen: auf junge Frauen, die als Informatikerinnen, Mathematikerinnen oder Physikerinnen in der Medizin arbeiten – oder auch auf eine Ärztin der Radiologie.
„Unsere Schülerinnen finden es cool, dass sie es mit hoch qualifizierten und extrem selbstbewussten Frauen zu tun haben. Für sie ist das eine unheimliche Stärkung“, sagt Wicke. Oftmals sind sie die Ersten in ihrer Familie, die ein Studium in Betracht ziehen. „Diese Begegnungen öffnen ganz neue Horizonte und Möglichkeiten. Wir haben hier ganz viele versteckte Talente, die jetzt entdecken: Es gibt ganz viele Wege in die Medizin, auch außerhalb des Medizinstudiums.“
Anna Rörich ist eines dieser Vorbilder, auch wenn die Mathematikerin sich selbst gar nicht so empfindet. Warum sie sich an der Schule engagiert? „Ich finde den Austausch super bereichernd“, sagt die Forscherin, die sich am Fraunhofer MEVIS vor allem mit der Verbesserung der Planung von Operationen in der Orthopädie beschäftigt. „Die Schüler:innen kommen auf Dinge, die wir gar nicht im Blick haben. Ich schätze die Diversität in der Gruppe, die uns selbst bei Fraunhofer ein wenig fehlt. Und ich möchte meine Begeisterung für mein Fachgebiet weitergeben.“
Die Beiträge der Forschenden zum Profil sind Bestandteil des Teilprojektes #MATHDAYS von MOIN, der Modellregion Industriemathematik. Zur Region gehört neben Bremen und Bremerhaven auch der Landkreis Osterholz. Gefördert wird das Teilprojekt mit 690.000 Euro, das Gesamtprojekt mit ca. 6 Millionen Euro vom Bundesministerium für Forschung und Bildung für zunächst drei Jahre. Die Initiative zielt darauf ab, Mathematik als lebendige und nützliche Wissenschaft erlebbarer zu machen – nicht nur in Schulen. „Wir wollen der breiten Öffentlichkeit zeigen, dass Mathematik in ganz vielen Dingen unseres Alltags steckt“, sagt Dr. Christine Knipping, Professorin für Didaktik der Mathematik an der Universität Bremen, wie das Fraunhofer MEVIS eine Mitgliedseinrichtung der U Bremen Research Alliance. Geleitet wird MOIN von Prof. Dr. Christof Büskens vom Zentrum für Industriemathematik der Universität.

© Jens Lehmkühler / U Bremen Research Alliance
Stadtrallyes, Forschertage oder auch Lernwerkstätten sind für Jugendliche im Teilprojekt #MATHINSIDE geplant. Im Teilprojekt #MATHUP können Studierende in Unternehmen Projekte verwirklichen. Kleinere und mittlere Unternehmen sind eine Zielgruppe des Teilprojektes #MATHWARE (siehe „Mathe als Erfolgsgarant“). Mathematik, insbesondere intelligente und effiziente Algorithmen, können zur Lösung betrieblicher Fragestellungen und damit zur Stärkung ihrer Innovationskraft beitragen. „Wir wollen Unternehmen verstärkt auf derartige Lösungen aufmerksam machen und Kooperationen entwickeln. Unser Ziel ist der Aufbau eines national führenden Zentrums im Bereich der Industriemathematik“, sagt Büskens.
Mit der Oberstufe der Oberschule am Waller Ring verbindet das Fraunhofer MEVIS bereits eine längere Partnerschaft in Form von gemeinsamen STEAM-(Science, Technology, Engineering, Arts, Mathematics) Workshops, etwa zum Thema Brustkrebs. „Einzelne Workshops sind sinnvoll, aber wir wollten eine vertiefte und nachhaltige Beziehung aufbauen zu dieser Schule mit ihrer diversen Schülerschaft. Das ermöglicht das Profil; wir engagieren uns langfristig“, sagt Bianka Hofmann, Leiterin Science Engagement am Fraunhofer MEVIS, die gemeinsam mit der Mathematikerin Sabrina Tölken den Antrag für die Förderung des Profils gestellt hat.

© Jens Lehmkühler / U Bremen Research Alliance
Ein weiterer Grund ist auch der Nachwuchsmangel. „Uns fehlen Nachwuchs und Fachkräfte“, sagt Sabrina Tölken. Wer künftig in der Medizin tätig sein will, sollte ein Verständnis für mathematische Zusammenhänge mitbringen. Denn die Digitalisierung setzt sich in diesem Bereich immer stärker durch. Egal ob bei der Diagnose und Therapie oder im Umgang mit Patientendaten – „ohne ein Grundverständnis der digitalen Werkzeuge sowie der Konzepte und Verfahren dahinter wird man künftig in den medizinischen Berufen nicht mehr arbeiten können“, ist Hofmann überzeugt.
„Mathe steckt überall drin, es ist super universell. Man weiß, was Sache ist, denn es gibt ein Richtig oder Falsch.“ Sabrina Tölken
Das beantwortet auch die gerne gestellte Frage, wofür man Mathe eigentlich braucht. Sie muss oft als eine Erklärung für die vermeintliche Unbeliebtheit das Fachs herhalten. „Mit dem Profil haben wir eine Antwort aus der realen Welt kreiert“, sagt Sabrina Tölken, die ganz ähnlich wie Anna Rörich die Begeisterung für ihr Fach auch ausstrahlt. „Mathe steckt überall drin, es ist super universell. Man weiß, was Sache ist, denn es gibt ein Richtig oder Falsch. Und man kann unglaublich viel damit anfangen. Das Fach ist vielfältig, logisch und einfach cool.“

© MOIN
Das Profil wirkt nicht nur in die Schüler-, sondern auch in die Lehrerschaft hinein. Es ist ein Querschnittsthema, das dadurch auch das Schubladendenken zu den Fächern aufbricht. In Deutsch wird ein Buch über eine Gesundheitsdiktatur gelesen, in Englisch stellt das Fraunhofer MEVIS Podcastfolgen zu aktuellen Forschungsthemen zur Verfügung. Selbst die Theater AG will das Thema aufgreifen. Auf einer gemeinsamen Plattform tauschen sich Lehrende und Wissenschaftler:innen aus, laden Materialien hoch, diskutieren über Inhalte.
„Wir sind froh über die Kooperation“, sagt Jan Wicke. „Digitale Gesundheit könnten wir gar nicht unterrichten. Uns fehlen die spezifischen Kompetenzen und wir verfügen auch nicht über die Software, um etwa mit digitalen Bildern zu arbeiten.“ Der Lehrer sieht in dem Profil einen Mehrwert für alle Beteiligten: für die Schüler:innen vor allem, für das Fraunhofer MEVIS und für die Schule als Ganzes. „Dieses Bildungsangebot ist so außergewöhnlich, dass es auch von außerhalb unseres Einzugsgebietes Interessierte anziehen wird.“
Mathe als Erfolgsgarant
Muster erkennen, Prozesse optimieren, datenbasierte Entscheidungen treffen: Für den Erfolg vieler Unternehmen sind zunehmend Algorithmen verantwortlich – und damit Mathematik. Im Teilprojekt #MATHWARE von MOIN wird Mathe als Technologie betrachtet, die dabei hilft, innovative Lösungen zu entwickeln, insbesondere für kleinere und mittlere Unternehmen in der Region. Geplant ist der Aufbau eines bundesweit führenden Zentrums für Industriemathematik. Innovationsscouts sollen Bedarfe ermitteln, sollen Wirtschaft und Wissenschaft stärker als bisher in Kontakt bringen. Erste Starterprojekte sind realisiert, etwa Autodrohnen zum Schutz von Tieren durch die Landwirtschaft und die Teilautomatisierung von Aufgaben in der Schifffahrt.
Mehr Informationen zum Projekt
Der Artikel stammt aus Impact - Dem Wissenschafts-Magazin der U Bremen Research Alliance
In der U Bremen Research Alliance kooperieren die Universität Bremen und zwölf Institute der bundländerfinanzierten außeruniversitären Forschung. Die Zusammenarbeit erstreckt sich über vier Wissenschaftsschwerpunkte und somit „Von der Tiefsee bis ins Weltall“. Das Wissenschafts-Magazin Impact gibt zweimal im Jahr spannende Einblicke in das Wirken der kooperativen Forschung in Bremen.