Sanfter Autoritarismus
Ein neuer Typus des Regierens entwickelt sich schleichend, beobachtet die Wissenschaftlerin Shalina Randeria.
Die neuen „sanft autoritären“ Regime wie in Ungarn oder Indien sind demokratisch gewählt. Einmal an der Macht, höhlen sie die liberalen Institutionen aus, indem sie die Mehrheiten der Wähler strategisch verändern. Darüber forscht die Sozialanthropologin Shalini Randeria. Die Professorin ist Präsidentin und Rektorin der Central European University (Wien/Budapest) und Inhaberin eines U Bremen Excellence Chairs, einer Gastprofessur an der Universität Bremen. Hier leitet sie die Forschungsgruppe „Soft Authoritarianisms“. Für up2date. haben wir mit ihr gesprochen.
Professorin Randeria, Sie sprechen vom „sanften Autoritarismus“ als einer neuen Herrschaftsform, die sich gegenwärtig in ganz unterschiedlichen Teilen der Welt ausbreitet. Wodurch zeichnet sich dieser sanfte Autoritarismus aus? Und wie unterscheidet er sich von bisherigen autoritären Regimen?
Wir können aktuell die zunehmende Bedeutung eines neuen Typus des Regierens beobachten, nämlich eines „sanften Autoritarismus“. Beispiele für diese globale Entwicklung wären etwa Polen und Ungarn in Europa, aber auch Indien, Brasilien oder die Türkei. Deren Gemeinsamkeiten und somit auch ihre Besonderheiten lassen sich gut bei einer genauen Untersuchung von Praktiken des Regierens, seien es Verwaltungspraktiken, Verfassungsänderungen oder auch neue Gesetzgebung, herausstellen. Ein Vergleich zu dem Vorgehen von „klassisch“ autoritären Herrschern ist hier ebenfalls lehrreich. Nehmen wir zwei Beispiele letzteren Typus aus der Gegenwart: In Myanmar etwa hat das Militär eine fraglos umstrittene, aber demokratisch legitimierte Regierung aus dem Amt geputscht und lässt Panzer gegen friedliche Demonstranten auffahren. Diese erinnern deutlich an frühere militärische Machtübernahmen durch autoritäre Herrschercliquen, etwa in Lateinamerika, die zumeist einen plötzlichen, radikalen Bruch für das politische und öffentliche Leben in diesen Ländern darstellten. In Belarus wiederum nutzt Machthaber Lukaschenko die gesamte Palette autoritärer Staatsgewalt, um die zivilgesellschaftlichen Proteste gegen die offensichtliche Fälschung der Präsidentenwahlen im Sommer 2020 zu unterdrücken: militarisierte Sicherheitskräfte behindern und unterdrücken Straßenproteste; Demonstrantinnen werden verhaften, verschleppt und gefoltert; selbst eine Bombendrohung wird fingiert, um ein Flugzeug mit einem regimekritischen Journalisten an Bord zur Landung in Minsk zu zwingen.
Sanft autoritäre Regierungen, wie in Polen oder in der Türkei, um zwei der Fälle zu nennen, die in unserer Forschungsgruppe untersucht werden, gehen anders vor. Zwar stellen sie die demokratische Verfasstheit ihrer Länder nicht in Frage, sondern positionieren sich explizit gegen den westlichen Liberalismus und Rechtstaatlichkeit. Sie kommen durch Siege in regulären demokratischen Wahlen an die Macht. Häufig geben sie sogar vor, demokratische Partizipation für bisher durch „abgehobene Eliten“ ausgeschlossene breite Volksschichten überhaupt erst durchzusetzen. Und der Wandel, den sie hervorrufen, erscheint zunächst nicht als radikaler Bruch, er ist eher von schleichender Natur. Aber die Folgen dieser Veränderungen sind dennoch sehr weitreichend, da sie demokratische Institutionen von innen aushöhlen. Es entsteht ein zerstörerischer Wandel, der formell demokratische Mittel nutzt. So verabschieden etwa parlamentarische Mehrheiten Gesetze, die darauf abzielen, die Werte und Prinzipien liberaler Demokratien sukzessive zu untergraben. Kurz gesagt, sanft autoritäre Regime bedienen sich der „Herrschaft durch Recht“, um die Herrschaft des Rechts zu zersetzen.
Welche demokratischen Prinzipien werden hierbei untergraben?
Es handelt sich zumeist um die Grundsätze, die der Machtausübung durch Politiker zeitliche und rechtliche Grenzen setzten und einen Regierungswechsel im Zuge eines demokratischen Wettstreits ermöglichen sollen: Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit, ein faires und inklusives Wahlrecht, die Unabhängigkeit der Justiz und Medien oder auch der Schutz von Minderheiten. In diesen Bereichen lassen sich graduelle und systematische Verschiebungen beobachten, die darauf abzielen, die Spielregeln dauerhaft zum Nachteil oppositioneller Kräfte zu verändern und somit die Macht des Regierungslagers zu verstetigen. Die Gesetze, die zum Zwecke der sog. Voter Suppression von der Republikanischen Partei in verschiedenen US-amerikanischen Gliedstaaten gegenwärtig verabschiedet werden, sind hierfür ein gutes Beispiel.
Wie funktioniert diese schleichende Aushöhlung demokratischer Prinzipien und Institutionen in der Praxis?
Ein weiteres Beispiel wäre der Umgang sanft autoritärer Regierungen mit einer pluralen Medienlandschaft. In Polen etwa hat die PiS-Regierung nach ihrem Wahlsieg 2015 damit begonnen, die öffentlich-rechtlichen Medien in regierungsnahe Propagandasender umzuwandeln. Altgediente Journalisten wurden entlassen und ihre Positionen stattdessen durch Parteigänger besetzt. An die Stelle einer kritischen Begleitung der politischen Auseinandersetzung ist ein einseitiges, ideologisch unterlegtes Narrativ getreten. Das Regierungslager hat somit wesentliche Mittel in der Hand, um die Themen, Rahmungen und Problemstellungen der öffentlichen Diskussion zu setzen und somit zu dominieren. Im Unterschied zu „klassischen“ autoritären Regimen werden unabhängige Medien nicht verboten. Aber es wurden häufig unbemerkt von der Öffentlichkeit viele kleine Schritte unternommen, um ihre Position zu untergraben oder ihre wirtschaftliche Überlebensfähigkeit zu beeinträchtigt: Staatsfirmen vergeben ihre Anzeigeaufträge nur noch an regierungsnahe Medien; eine staatseigene Tankstellenkette nimmt kritische Zeitungen aus dem Sortiment und erhält später den Auftrag, ein großes Medienhaus aufzukaufen und regierungskonform umzugestalten. Ganz aktuell zielen formelle Veränderungen im Vergaberecht von Sendefrequenzen darauf ab, dem größten unabhängigen Fernsehsender Polens das Leben schwer zu machen, wenn nicht sogar ihm ganz die Lizenz zu entziehen. Bezeichnenderweise werden solche kleineren Verschiebungen von Regierungsseite als Beitrag zur Herstellung einer pluralen Medienlandschaft dargestellt. Diese Art der Desinformation trägt weiter zur Aushöhlung einer liberalen Demokratie von innen heraus bei.
Oder nehmen wir Eingriffe in das Wahlrecht eines Landes, die eine systematische Verzerrung von Wahlergebnissen zur Folge haben. Hier bildet in der EU Orbáns Vorgehen in Ungarn das Paradebeispiel. Nach seinem ersten Wahlsieg 2010 wurden die Wahlkreise nicht nur um die Hälfte reduziert, sondern auch auf Basis politischer Erwägungen komplett neu gezogen. Hierdurch gelang es der Regierungspartei bei den Wahlen 2014 mit 45 Prozent der Stimmen zwei Drittel der Parlamentssitze zu gewinnen – eine Mehrheit, die ihr in der Folge Verfassungsänderungen und somit einen institutionellen Umbau der ungarischen Demokratie ermöglichte. Ein zweites Manöver modifizierte die Zusammensetzung des politischen Körpers, ohne dabei die Grenzen des Landes zu verändern. Bereits 2012 gewährte Orbáns Regierung den Angehörigen ungarischer Minderheiten in Nachbarländern das Wahlrecht. Etwa 95 Prozent dieser Neuwähler gaben seiner Fidesz-Partei ihre Stimme und trugen maßgeblich zu ihrem Wahlsieg zwei Jahre später bei. Entscheidend ist, dass es dem Regierungslager hierdurch gelungen ist, das Wahlvolk nachhaltig zu eigenen Gunsten umzugestalten und somit auch die Rahmenbedingung demokratischer Willensbildung, freie und faire Wahlen, substantiell auszuhöhlen.
Im Rahmen Ihres Excellence Chairs an der Universität Bremen haben Sie eine Forschungsgruppe eingerichtet, die diese Entwicklungen untersucht. Womit beschäftigen Sie sich hier genau?
Im Zentrum unserer Arbeit stehen drei Fallstudien zu Frankreich, Polen und der Türkei, um die hier angedeuteten Zusammenhänge empirisch und analytisch nachzuzeichnen. Hierbei haben wir uns bewusst entschieden, mit Frankreich auch eine „alte Demokratie“ in Westeuropa einzubeziehen, denn die Ausdehnung autoritärer Politiken, Regierungstechniken und Sprechweisen zeigt sich nicht nur in Osteuropa oder im Globalen Süden. Wir beobachten diese Tendenzen gleichfalls in den USA und in vielen westeuropäischen Ländern – etwa im politischen Umgang mit Migration und Geflüchteten, Terrorismus oder im resoluten Vorgehen gegen zivilgesellschaftliche Protestbewegungen und den Angriffen auf die akademische Freiheit, die Disziplinen wie Gender Studies, Post-Colonial Studies oder Critical Race Studies als „Aktivismus“ etikettieren. Uns geht es um ein genaueres Verständnis des Charakters und der Auswirkungen dieser schleichenden Transformationen innerhalb von Demokratien. Durch einen solchen Vergleich lassen sich gemeinsame Muster ebenso herausarbeiten wie die Besonderheiten eines jeweiligen Falls. Wir hoffen, auf diese Weise vertiefende Erkenntnisse zu sanftem Autoritarismus als einer neuen, sich gegenwärtig in ganz unterschiedlichen Teilen der Welt ausbreitenden Herrschaftsform zur Verfügung stellen zu können.