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Modernisierungsblockaden in der DDR

Ein Forschungsprojekt über Modernisierungsblockaden in Wirtschaft und Wissenschaft der DDR will Wissenslücken schließen

Forschung

30 Jahre ist die deutsche Wiedervereinigung im Herbst 2020 nun schon her. Seither hat sich das Klischee verfestigt, dass 1990 eine leistungsfähige kapitalistische Ökonomie ein abgewracktes und bankrottes sozialistisches System übernommen hat. Ein Irrglaube: Es gab durchaus Segmente, in denen die DDR ökonomisch erfolgreich war. Auch wissenschaftlich und technologisch verfügte man über international anerkanntes Know-how. Was der DDR zu schaffen machte, waren „Modernisierungsblockaden“ - diese sind Thema eines Forschungsverbundes unter Leitung von Professorin Jutta Günther aus dem Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der Universität Bremen.

Das Urteil ist schnell gefällt und hält sich hartnäckig: Die Ökonomie der DDR war marode und kaum konkurrenzfähig, die Leistung von Wirtschaft und Technologie unterdurchschnittlich. Kein Wunder also, dass am Ende alles „den Bach runterging“. Der schlimme Zustand der ostdeutschen Betriebe und die schlechte Ausstattung der einzelnen Sektoren hatten ihren Anteil am Zusammenbruch des Systems. „Das ist insgesamt nicht ganz falsch, aber viel zu pauschal“, sagt Professorin Jutta Günther. Seit Dezember 2018 leitet die Volkswirtin der Universität Bremen das interdisziplinäre und überregionale Forschungsprojekt „Modernisierungsblockaden in Wirtschaft und Wissenschaft der DDR“. Als eines von insgesamt 14 Vorhaben, die das Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert, soll es Wissenslücken über die DDR schließen.

Der Braunkohletagebau in der Lausitz war einer der industriellen Kerne, die erhalten blieben. Erst die Energiewende in Deutschland bedeutet jetzt das Ende dieses Industriezweiges.
© Cezanne-Fotografie / AdobeStock

„Alles schlecht, alles veraltet, nichts funktionierte“: Wer so über die Wirtschaft der DDR denkt, macht es sich zu leicht. „Unser Forschungsanliegen ist eine wesentlich differenziertere Sicht“, sagt Jutta Günther. „Mit welchem technologischen Startkapital ging die DDR in die Wiedervereinigung? Welche wichtigen wirtschaftspolitischen Entscheidungen wurden nach der Wende beim schnellen Übergang zur Privatwirtschaft gefällt? Wie wirken diese bis heute auf die ostdeutsche Wirtschaft und ihre Struktur nach?“ Das sind die zentralen Fragen, die allein in Bremen zehn Forschende antreiben. Sie arbeiten im Fachgebiet „Innovationsökonomik“ von Jutta Günther sowie in der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität. Weitere Projektbeteiligte kommen aus Universitäten und Forschungsinstituten in Berlin, Halle, Jena und Frankfurt/Oder.

Pläne, die nichts mit der Realität zu tun hatten

In der Wirtschaft der DDR herrschte das „Primat der Produktion“: Die zentrale Planung gab unverrückbare Produktionsziele vor, die erfüllt — besser noch: übererfüllt — werden sollten. „Mit der Realität vor Ort hatten die Pläne wenig zu tun, weswegen sie letztlich scheitern mussten“, sagt die Habilitandin Ann Hipp von der Universität Bremen, die intensiv im Projekt mitarbeitet. „Dabei befand sich das Wissenschaftssystem in der DDR im naturwissenschaftlich-technischen Bereich auf einem sehr hohen Niveau. Hier, aber auch in den Unternehmen gab es bestens ausgebildete Männer und Frauen — nur konnte deren Wissen nicht in innovative Produkte umgesetzt werden, weil die materiellen Voraussetzungen zur Realisierung fehlten.“ Obwohl es auch in der DDR eine Struktur- und Technologiepolitik gab, obwohl bestimmte Sektoren immer wieder gezielt gestärkt wurden: Es mangelte letztlich an ausreichendem Material und leistungsfähiger Infrastruktur.

Die Menschen wiederum hatten keine Anreize, sich übermäßig zu engagieren, so Ann Hipp: „Für Forschende wie für Werktätige gab es bei guten Leistungen Belobigungen und Urkunden. Das war’s aber auch schon.“ Heruntergekommene Chemiekombinate, Mondlandschaften in den Braunkohlerevieren, veraltete Maschinen, minderwertige Automobile wie Trabant und Wartburg — diese Bilder haben sich in den Köpfen festgesetzt. „Dabei waren das technologische Wissen und die Kompetenzen — das sogenannte Humankapital — durchaus vorhanden“, sagt Jutta Günther. „Es gibt zahlreiche Beispiele von erfolgreichen Technologien und Entwicklungen aus der DDR, die es geschafft haben, sich auch im Kapitalismus mit marktfähigen Produkten zu behaupten — in der Optik, der Mikroelektronik, der Kühltechnik oder der Akustik, um nur einige Beispiele zu nennen“.

Zukunft Mikroelektronik: Ein großes Cluster der Speicherchip-Industrie — das „Silicon Saxony“— entstand nach der Wende rund um Dresden.
© I’m Thongchai / AdobeStock

300.000 Patente in Datenbank erfasst

Die Modernisierungsblockaden in der DDR waren systembedingt. Beispiel Forschung und Entwicklung: „Hier arbeiteten mehr Menschen als in Westdeutschland, und das sehr erfolgreich“, sagt Ann Hipp. „Die Gesamtzahl der Patente war sehr hoch — rund 300.000. Gemeinsam mit unseren Partnern aus Jena haben wir alle DDR-Patente mittlerweile in einer Datenbank erfasst.“ Doch auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hatten mit extremen Einschränkungen zu kämpfen. Sie konnten sich nicht richtig austauschen, hatten nicht genügend Informationen und zu wenig internationale Kontakte. „Viele hatten gar keine Chance, Produkte zu verbessern, weil sie stets innerhalb bestimmter Vorgaben agieren mussten.“ Anders als im Westen, wo Erfindungen sich oft auch finanziell auszahlen und beispielsweise zu Neugründungen aus Universitäten heraus führen, gab es in der DDR kein derartiges Anreizsystem. Doch die Projektbeteiligten arbeiten primär nicht wirtschaftshistorisch, sondern schauen sich neben den Grundlagen auch die weitere Entwicklung an. „Aus einem genaueren Verständnis der Vergangenheit heraus wollen wir die Gegenwart besser erklären“, sagt Jutta Günther. „Beeinflussen die Langzeitfolgen aus dem Sozialismus und der Transformation in den Kapitalismus bis heute die Strukturschwächen in den neuen Ländern?“

Die Ausgestaltung des „Aufschwungs Ost“ war eine politische Entscheidung. In den Jahren nach der Wende wurden wesentliche Weichen für die weitere wirtschaftliche Entwicklung in den ostdeutschen Regionen gestellt.
© Foto: Bundesarchiv B 145 Bild-00003561

Privatisierung war „eine chaotische Zeit”

In der Treuhand galt das Motto: „Schnell privatisieren, entschlossen sanieren, behutsam stilllegen.” Die Privatisierung mit der Treuhand dauerte bis 1994. In dieser Zeit wurden ganz wesentliche Weichen gestellt für die weitere wirtschaftliche Entwicklung in den ostdeutschen Regionen. „Das war eine chaotische Zeit. Die Betriebe konnten ja nicht von heute auf morgen auf Marktwirtschaft umschalten“, so die Professorin. Jahrelang — zum Teil bis heute — hat der Staat lenkend eingegriffen. „Die Privatisierung war auch ein politischer Prozess. Es waren ja keine freien Marktkräfte, die da wirkten. Es ist in dieser Zeit des Übergangs viel zerstört worden, bis sich der Staat zugunsten des Erhalts einiger industrieller Standorte einsetzte. Die damaligen Weichenstellungen wirken zum Teil bis heute fort.“ Die wirtschaftlichen Strukturen Ostdeutschlands wurden nach der Wende neu geprägt.

Beispiel Standortpolitik: Trotz maroder Anlagen entschloss man sich, das mitteldeutsche Chemiedreieck um die Städte Halle/Saale, Merseburg und Bitterfeld zu erhalten. „Das tat man natürlich auch, um Arbeitsplätze zu sichern“, sagt Ann Hipp. „Man musste praktisch alles komplett erneuern. Im Endeffekt war es aber eine richtige Entscheidung. Heute ist dieser Standort sehr wettbewerbsfähig. Das lief damals alles unter dem Stichwort Erhalt industrieller Kerne ab.“ Der Erhalt der mikroelektronischen Kompetenz rund um Dresden, wo heute das „Silicon Saxony“ einen wichtigen Standort der Chipindustrie darstellt, ist ein weiteres Beispiel.

Viel Know-how und gut ausgebildete Fachkräfte gab und gibt es im mitteldeutschen Chemiedreieck um Halle/Saale, Merseburg und Bitterfeld. Die.Standorte .blieben erhalten, und es wurde in ihre Modernisierung investiert.
© mmmx / AdobeStock

Keine Großunternehmen, eher „verlängerte Werkbänke”

Aber es gibt auch eine andere Seite: 30 Jahre nach der Wiedervereinigung sind die Strukturen in Ostdeutschland insgesamt gesehen immer noch schwach. „Die industrielle Basis ist kleinteilig. Es gibt keine Großunternehmen wie im Westen, wo beispielsweise VW, Daimler oder Siemens Tausende in einem Unternehmen und an einem Standort beschäftigen“, sagt Ann Hipp. „In der ehemaligen DDR sind viele Großbetriebe verlängerte Werkbänke, zum Beispiel das Porsche-Werk in Leipzig. Es gibt nur wenige Standorte, wo strategische Forschung und Entwicklungen stattfinden. In Ostdeutschland haben wir bis heute eine ganz andere Unternehmens- und Industriestruktur.“

Auch „gewachsenes Entrepreneurship“, also kreative und mutige Firmengründungen oder positive Entwicklungen, wie man sie beispielsweise aus der familiengetriebenen Wirtschaftsgeschichte Baden-Württembergs kenne, ist in vielen ostdeutschen Regionen unterrepräsentiert. Mit ihrem Wissen wollen sich die Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter in aktuelle Debatten einmischen. „Es gibt ja gerade intensive Diskussionen, ob man in Ostdeutschland mehr fördern soll — oder es womöglich aber ganz sein lässt“, so Jutta Günther „Wir wollen dazu unseren Beitrag leisten: Wie und wo kann man die Innovationstätigkeit weiter unterstützen, wo spielen Investitionen eine Rolle?“ Doch nicht allein der „innerdeutsche Blick“ zählt. Zeitgleich wird an der Forschungsstelle Osteuropa auch die Situation in Polen und Tschechien untersucht, um den Blick Richtung Osten zu schärfen.

Weitere Informationen

Projektseite

Pressemitteilung zur Stärkung der DDR-Erforschung

Wo noch heute DDR-Technologien erfolgreich sind

Optische Technologien:

Hochwertige Optik aus Jena war schon im 19. Jahrhundert ein Begriff. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen qualitativ erstklassige optische Produkte — oft für die Rüstungsindustrie, aber auch Kameraobjektive oder astronomische Produkte —vom Volkseigenen Betrieb (VEB) Carl Zeiss Jena. Spitzenleistungen in der Forschung führten immer wieder zu international beachteten Entwicklungen. Nach der Wende wurde ein Teil des VEB mit Carl Zeiss Oberkochen in Westdeutschland zusammengeführt, ein anderer Teil blieb unter dem Namen Jenoptik in Jena aktiv.

Kühltechnik:

Spitzentechnologie der Kühl- und Kältetechnik kam und kommt aus Berlin, wo zu DDR-Zeiten die VEB Kältetechnik immer wieder bahnbrechende Neuentwicklungen vorantrieb. So wurde beispielsweise die Gefriertechnik für die komplette russische Fischfangflotte von dem VEB geliefert. Das Unternehmen schaffte es auch nach der Wende, am Markt zu bleiben, und firmiert heute als Grasso GmbH. Der Spezialist in der industriellen Kältetechnik setzt in der DDR entwickelte Kältemaschinen noch heute in modernerer Form weltweit in Supermärkten, Lagerhallen, Klimaanlagen und im Fischfang ein.

Mikroelektronik:

Das VEB Kombinat Robotron hatte als Computerhersteller in der DDR einen hohen Stellenwert und wurde stark gefördert. Zur Produktion gehörten elektronische Datenverarbeitungsanlagen, Klein- und Mikrorechner, Personalcomputer, Prozessrechner und Steuerungsrechner, aber auch Büromaschinen. Zeitweise wurden in der DDR Speicherchips hergestellt, die jedoch dem internationalen Preiswettbewerb nicht standhielten. Das Kombinat wurde nach der Wiedervereinigung abgewickelt. Das Wissen und die Fähigkeiten der Menschen in dieser Branche bildeten jedoch eine wichtige Grundlage für den Aufbau eines großen Clusters der Speicherchip-Industrie rund um Dresden, dem „Silicon Saxony“. Auch die Forschung auf diesem Gebiet ist heute in und um Dresden sehr stark.

Beschallungstechnik:

1972 wurde der VEB Musikelektronik Geithain gegründet, ein Unternehmen, das stark von den bahnbrechenden Ideen des Tüftlers Joachim Kiesler profitierte. Er trieb die Lautsprechertechnologie voran und entwickelte hochwertige elektronische Komponenten wie Mikrofonverstärker, Mischverstärker und Endstufen, aber auch elektronische Konzert- und Kirchenorgeln. Der Rundfunk-Regielautsprecher RL900 ist bis heute nicht nur in Rundfunkanstalten, sondern auch im Leipziger Gewandhaus, der Dresdner Semperoper und dem Berliner Schauspielhaus im Einsatz und wird — wie viele weitere Produkte — in höchsten Tönen gelobt. Als. usikelectronic Geithain GmbH beliefert das Unternehmen heute viele Sender und Studios weltweit und hat im Bereich Rundfunk und Fernsehen einen Marktanteil von 80 Prozent.

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