Grabung auf dem ehemaligen Friedhof sowjetischer Kriegsgefangener
Studierende der Geschichtswissenschaft arbeiten bei einem außergewöhnlichen Projekt der Landessarchäologin mit.
Seit einem Jahr gräbt Uta Halle, Bremer Landesarchäologin und Professorin an der Universität Bremen, im Auftrag der Landesregierung mit ihrem Team auf einem ehemaligen Friedhof für sowjetische Kriegsgefangene aus dem Zweiten Weltkrieg in Bremen Oslebshausen. Hier liegen die Überreste von Kriegsopfern, die fast 80 Jahre lang vergessen waren. Nur durch einen Zufall wurde an diesem Ort, der in einem staubigen Industriegebiet liegt, mit den Grabungen begonnen. Denn eine Bürgerinitiative will die Ansiedlung einer Bahnwerkstatt verhindern und stieß durch ihre Recherchen auf den Friedhof. Ein Interview mit Professorin Uta Halle.
Frau Halle, wann haben Ihre Grabungen auf dem ehemaligen Friedhof für sowjetische Kriegsgefangene aus dem Zweiten Weltkrieg in Bremen Oslebshausen begonnen?
Im Juli 2021 haben wir mit der Vorbereitung der Ausgrabungen angefangen. Das heißt, wir haben zuerst zwei Meter Kriegsschutt abgetragen. Dann haben wir in den ersten Reihen gegraben und erste Knochen und erste Erkennungsmarken der Bestatteten gefunden. Diese Marken geben uns die entscheidenden Hinweise. Eigentlich hätte hier niemand mehr liegen dürfen, denn der Kriegsgräberfriedhof war 1948 aufgelöst und die Verstorbenen umgebettet worden. Aber wie sich zeigte, war das nicht vollständig erfolgt. Es fand sich auch eine Karte der Friedhofsfläche aus den 40er Jahren. Schnell wurde klar, dass bei der Umbettung auf den Osterholzer Friedhof Leichen übersehen worden waren. Daher wurden wir damit beauftragt, hier zu graben.
Was haben Sie bisher gefunden?
Wir haben bis heute 14 000 Knochenfragmente gefunden. Also einzelne Finger, Kniescheiben. Diese Knochen sind wichtige Schlüssel zur Vergangenheit: Wir können zum Beispiel anhand der Kniescheibe erkennen, ob jemand auf dem Bauch oder auf dem Rücken bestattet wurde. Am Zahnstatus oder am Schädelknochen kann man das Alter der Bestatteten ablesen. Der Friedhof ist 1948 nicht vollständig exhumiert worden. So dass wir anfangs selten vollständige Skelette fanden. Inzwischen sind es 65 Skelette. Und wir haben 203 Erkennungsmarken gefunden. Davon sind 150 Menschen identifiziert worden, das heißt wir haben die Namen und die Nationalitäten.
Wie viele Tote liegen hier unter der Erde? Und aus welchen Ländern kamen sie?
Die Opfer waren Bürger der ehemaligen Sowjetunion und stammten aus Gebieten, die heute zu Russland oder der Ukraine gehören. Es sind überwiegend Russen, aber auch Ukrainer und Belarussen. Also sowjetische Kriegsgefangene, auch Zwangsarbeiter vermutlich aus Polen. In einem Polizeibericht von 1946 sind die Nummern von 217 Gräbern mit hölzernen Kennzeichen, weiteren Gräber mit Kürzeln Z1 bis Z63 und 460 Grabstellen ohne Kennzeichen aufgeführt. Aber derzeit gehen wir davon aus, dass diese Grabstellen nicht belegt waren, denn wir sehen auf alten Luftbildern zwei unterschiedlich große Friedhofsbereiche und dazwischen eine helle Sandfläche.
Wie gehen Sie zurzeit vor?
Wir arbeiten uns Zentimeter für Zentimeter vor. Ganz sachte wird Schicht für Schicht freigelegt. Gerade arbeiten wir an einem Grab mit mehreren vollständigen Skeletten. Dies alles freizupräparieren, das ist eine besondere Arbeit, die sehr viel Feingefühl und Geduld erfordert. Wir arbeiten aber auch mit Baggern. Wir haben uns schon bis in 6 Meter Tiefe vorgearbeitet. Jetzt sind wir in der letzten Ecke des Friedhofs angelangt. In dem ersten Teil des Friedhofs haben wir einzelne Gräber gefunden. Inzwischen haben wir auch mehrere Massengräber gefunden. In dem Feld, aus dem wir derzeit die Verstorbenen bergen, sind Knochen von 16 Menschen sichtbar. In einem anderen rechnen wir mit 20. Wir sehen aber noch weitere Unterschiede zu den ersten Gräbern. Diese Menschen wurden unbekleidet bestattet, während sie in den früheren Gräbern zum Teil noch Kleidung trugen. Sie liegen dicht an dicht.
Was sagt das über mögliche Todesarten aus?
Wir interpretieren noch nicht, wir sammeln noch. Die wissenschaftliche Dokumentation und Auswertung anschließend sind sehr komplex. Wir wissen aber: Es gab hier vier Internierungslager. Die Zwangsarbeiter waren im Straßenbau eingesetzt, in Rüstungsbetrieben, wie der AG Weser. Viele starben an Seuchen, Erschöpfung, den Haftbedingungen oder wurden bei Bombenangriffen der Alliierten getötet.
Wie bedeutend ist dieser Fund hier für Bremen?
Unsere Grabungen in Oslebshausen stellen nicht nur für Bremen, sondern für Deutschland und sogar für Europa einen ganz bedeutenden Fund dar. Ende der 1940er Jahre hatte man viele Friedhöfe aufgelöst und Tote umgebettet. Hier ist es nach dem Krieg nicht gut gelaufen, wie man jetzt sieht. Denn es wurde nur unvollständig exhumiert. Und jetzt beginnt man sich auch in anderen Ländern zu fragen, ob es auch dort solche Fälle gibt. Wir waren jetzt in Linz auf einer Tagung der Österreichischen Gesellschaft für Mittelalterarchäologie und haben unsere Arbeit vorgestellt. Sie stößt in der Fachwelt auf großes Interesse.
Es sind ja auch Studierende der Universität Bremen beteiligt – ein interessantes Thema für Forschendes Lernen!
Ja, in der Tat. Wir hatten hier im vergangenen Jahr schon 25 Studierende aus dem Bachelorstudiengang Geschichte, einen Studierenden aus dem Fach „Environmental History“, der seine Masterarbeit zur Landschaftsentwicklung der Lagersitutation in der Umgebung des Friedhofs geschrieben hat. Außerdem halfen uns vier Studierende aus Kiew, und wir hatten welche aus Berlin und Hamburg. Es wurden natürlich auch Bachelorarbeiten über unsere Lehrgrabung geschrieben. Es wurden außerdem Projektarbeiten über die Lagersituation und die sowjetischen Kriegsgefangenen verfasst, die wir als Poster am Tag des offenen Denkmals gezeigt haben.
Haben Sie schon Angehörige der Verstorbenen ausfindig machen können?
Ja, in zwei Fällen wurden Angehörige gefunden, also Kinder und Enkelkinder bzw. Neffen. Das war für uns ein sehr berührender Moment. Es kommt sehr selten vor, dass man in der Archäologie so etwas erlebt. Normalerweise sind die Personen, mit denen ich mich beschäftige, seit hunderten von Jahren tot, da gibt es keine Angehörigen mehr. Das ist hier ist etwas ganz Besonderes. Über die Spur der Erkennungsmarken konnten ihre Lebensgeschichten nachverfolgt werden. Den Toten können wir ihre Identität zurückgeben.
Wie geht es mit den gefundenen Überresten weiter?
Die Politik muss das entscheiden. Erst einmal kommen die Funde in die Landesarchäologie, wo wir die weitere Auswertung vornehmen, bis entschieden ist, was damit passieren soll. Die Bremer Landesregierung ist mit den Generalkonsulaten Russlands, der Ukraine und Belarus im Gespräch.
Was muss ihrer Ansicht nach mit diesem Ort passieren. Wäre die Reitbrake ein würdiger Gedenkort?
Wenn Sie mich hier nach meiner persönlichen Meinung fragen, nein. Sehen Sie sich um. Hier nebenan ist Bremens Sondermülllager. Dort eine Firma für Gartenbau, auf der anderen Seite ein Wohnblock, dort die Eisenbahn, da ein Öllager. Es ist der Ort, den die Nazis dafür ausgesucht haben. Damals, 1941, wohl wissend, dass es ein Industriegebiet werden sollte. Dieser Platz ist unwürdig. Und es gibt einen passenden Ort in Bremen: Den Ehrenfriedhof in Osterholz. Dort könnte ich mir auch den Gedenkort vorstellen, allerdings stelle ich mir auch vor, dass die kleine Gedenkstätte an der Reitbrake mit Information aus der Ausgrabung ergänzt werden sollte.