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„Die Gefahr wird größer, dass sich Engpässe verstärken“

Immer öfter werden in Deutschland Arzneimittel knapp – auch schon vor der Corona-Krise. Ein Interview mit dem Gesundheitswissenschaftler und Versorgungsforscher Professor Gerd Glaeske.

Forschung

Es musste nicht erst das Coronavirus kommen, damit in Deutschland bestimmte Arzneimittel knapp werden – Meldungen darüber gab es auch schon früher. Aber verschärft sich jetzt die Lage? Und warum tritt dieses Phänomen überhaupt auf? Einer, der es wissen muss, ist Professor Gerd Glaeske von der Universität Bremen. Er arbeitet im SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik und gilt als einer der renommiertesten deutschen Wissenschaftler, wenn es um Fragen rund um den Arzneimittelmarkt geht.

Herr Glaeske, schon vor dem Auftreten des Coronavirus in China wurde in Deutschland von Arzneimittelengpässen berichtet, etwa bei Schmerzmitteln, Blutdrucksenkern oder Antidepressiva. Wie sehr hat sich die Lage jetzt verschärft?

Derzeit wird die Gefahr größer, dass sich die Engpässe verstärken. Lieferengpässe an sich sind nichts Neues – tatsächlich haben mein Team und ich schon vor mehr als zehn Jahren die erste Publikation dazu veröffentlicht. Damals waren die Krankenhausapotheken betroffen, und ein bis zwei Stunden die Woche hat sich jemand darum gekümmert, bei Lieferengpässen woanders Ersatz zu beschaffen. Heute gibt es in den großen Krankenhäusern ein bis zwei Kräfte, die den ganzen Tag nichts Anderes tun.

Krankenkassen schließen mit den Herstellern Verträge ab, um bestimmte Arzneimittel günstiger zu bekommen. Wieso sind ausgerechnet diese „Rabattarzneien“ immer öfter nicht lieferbar?

Das betrifft vor allem den Bereich der chronischen Erkrankungen oder Arzneimittel, die viel gebraucht werden. Dort kommen sogenannte Generika zum Einsatz, also kostengünstige Nachahmer-Produkte. Das macht immerhin mehr als 75 Prozent aller Arzneimittelverordnungen aus. Die Produktionsstätten dieser Generika liegen meistens in Indien und China, wo man günstiger produzieren kann. Aber dann sind die Lieferketten länger, und die Zuverlässigkeit oder Qualität sind auch nicht immer so, wie man sich das vorstellt. Die Rabattverträge der Kassen haben die Preise so stark nach unten bewegt, dass die Hersteller diesen Weg gegangen sind, um überhaupt noch Profit zu machen. Dass jetzt natürlich ausgerechnet die Regionen vom Coronavirus betroffen sind, in denen die Mittel hergestellt werden, ist ein unglücklicher Zufall – aber einer mit Auswirkungen.

„Pharmafirmen haben sich abhängig gemacht“

Einer der führenden Experten in Deutschland, wenn es um das Thema Arzneimittelversorgung geht: Professor Gerd Glaeske von der Universität Bremen.
Foto: Raphael Huenerfauth / Photothek.net

Hat sich Deutschland zu abhängig gemacht von Billiglieferanten aus anderen Teilen der Welt?

Nicht Deutschland, aber die Pharmafirmen. Die wollen mit diesem Weg ihre Profite sichern. In den USA ist die Situation übrigens noch viel dramatischer, weil die Pharmafirmen dort hauptsächlich in Indien produzieren lassen. Die dortigen Fabriken bekommen ihre Rohstoffe aber wiederum größtenteils aus China. Bei uns sind momentan noch genug Medikamente und Alternativen gelagert, auch von anderen Anbietern. Kritisch wird es, wenn die verbraucht sind und nichts aus China nachkommt.

Müsste man angesichts von immer häufigeren Medikamentenengpässen nicht eine Art „Notration“ für turbulente Zeiten vorhalten? Es gibt ja auch Öl- und Gasreserven.

Diese Idee wurde auch schon von der Politik diskutiert – endlich! Vergangenes Jahr wurde erstmals von einer „nationalen Arzneimittelreserve“ gesprochen. Ich habe allerdings meine Zweifel, ob das was wird. Unsere Daten sagen, dass wir ungefähr 3.000 Arzneimittel haben, die viel verordnet werden. Welche will man da auf Lager legen? Alle geht nicht, dafür ist der Markt zu differenziert. Man sollte aber zumindest bestimmte Arzneimittel, die zum Beispiel für die Krebsbehandlung wichtig sind, vorhalten. Wir erleben es gerade, dass aufgrund von Arzneimittelknappheit onkologische Behandlungszyklen verändert werden. In der Chirurgie fehlen zurzeit ausgewählte Anästhesiemittel. Das geht nicht.

„Abgelaufene Medikamente nicht verwenden“

Kaum ein Arztbesuch ohne Rezept: Was den Medikamentengebrauch angeht, ist Deutschland ist zwar nicht Weltmeister – aber ziemlich weit vorne dabei.
Foto: Steve Buissinne / Pixabay

Vielleicht muss man ja in der Not auch auf ein schon abgelaufenes Medikament zurückgreifen. Ist es denn gefährlich, einen Blutdrucksenker zu nehmen, der das Verfallsdatum schon längst überschritten hat?

Das kann man natürlich machen. Die Wirkung dürfte auch ein paar Monate später noch da sein. Da gibt es auch entsprechende Untersuchungen, die das bestätigen. Großbesteller wie die Bundeswehr oder Katastrophenschutz nutzen Medikamente nach einer Vorprüfung auch über den Tag hinaus. Was man aber als Normalverbraucher wissen muss: Der Hersteller ist nach dem Ablaufdatum aus seiner Haftung entlassen. Er muss nicht mehr für unerwünschte Wirkungen aufkommen. Ich würde von der Verwendung abgelaufener Medikamente abraten.

Wie schnell greifen deutsche Ärztinnen und Ärzte im weltweiten Vergleich zum Rezeptblock? Gehören wir zu den Liebhabern der Pillenschachtel?

Wir sind nicht Weltmeister, aber ziemlich weit vorne dabei. Nur mal ein Vergleich: In den Niederlanden gehen 44 Prozent der Patienten ohne Rezept wieder aus einer Arztpraxis. Wir sind statistisch gesehen eher kurz vor 100 Prozent. Das liegt auch daran, dass das Ausstellen des Rezeptes in Deutschland eine Art Ritual ist. Greifen die Ärztin oder der Arzt zum Rezeptblock, weiß der Patient, dass das Behandlungsgespräch so gut wie beendet ist.

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