Gemeinsam allein? Dem Zusammenhalt auf der Spur
Das Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt geht in die zweite Runde
Ob im Zuge der Coronapandemie, des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine oder des Klimawandels: Regelmäßig wird in politischen Debatten betont, wie wichtig Zusammenhalt sei. Doch was bedeutet Zusammenhalt überhaupt konkret, und wie ist es um ihn in Deutschland bestellt? Solchen Fragen gehen bundesweit Forschende aus elf Universitäten und Forschungseinrichtungen im gemeinsamen „Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ (FGZ) nach – darunter federführend die Universität Bremen. Seit 2020 wird das Institut vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert, jetzt geht es bis 2029 in die zweite Förderrunde.
Worin ähneln sich eigentlich AfD- und Grünen-Wähler:innen? Trotz aller politischen Unterschiede haben sie eine Gemeinsamkeit: In beiden Gruppen gibt es eine starke „affektive Polarisierung“. Wer also etwa die Grünen wählt, sieht andere Grünen-Wähler:innen in einem besonders positiven Licht und wertet AfD-Wähler:innen stark ab – und andersherum. Oder anders gesagt: Der Zusammenhalt innerhalb der beiden Gruppen ist besonders hoch, auf Kosten des Zusammenhalts mit Menschen, die gegensätzliche politische Ansichten vertreten. Das ist eines der Ergebnisse des „German Social Cohesion Panel“, einer repräsentativen Umfrage unter 12.000 Personen in Deutschland. Seit 2021 wird sie jährlich durchgeführt, als ein Projekt des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ).
Das Institut vereint bundesweit elf Hochschulen und Forschungseinrichtungen, mit rund 200 Forschenden aus der Politikwissenschaft und der Soziologie, aber auch anderen Forschungsgebieten wie der Kommunikations- und Medienwissenschaft und der Geschichtswissenschaft. Von 2020 bis 2024 lief die erste Förderphase, mit 40 Millionen Euro vom BMBF. Bis zu zehn Millionen Euro pro Jahr gibt es nun in der zweiten Förderphase, die bis 2029 läuft. Die Förderung fließt in eine Vielzahl von Projekten in vier Themenfeldern: politische, institutionelle und zivilgesellschaftliche Bedingungen des Zusammenhalts, soziostrukturelle Bedingungen des Zusammenhalts, öffentliche Güter und Infrastrukturen des Zusammenhalts, sowie mediale und kulturellen Bedingungen des Zusammenhalts. Konkret beschäftigen sich die Forschenden beispielsweise mit der Gesundheitsversorgung von Personen am Rande der Gesellschaft oder Polarisierungsdynamiken in den sozialen Medien. Die Universität Bremen ist dabei für die bereits erwähnte zentrale Panel-Befragung zu gesellschaftlichem Zusammenhalt zuständig. Hier ist auch das Forschungsdatenzentrum des FGZ angesiedelt. Die Geschäftsstelle des FGZ ist an der Goethe-Universität Frankfurt verortet.
Elf Institutionen, ein Institut – ein ungewöhnliches Konstrukt
Ein Institut mit so vielen beteiligten Forschungseinrichtungen ist in Deutschland ein eher ungewöhnliches Konstrukt. „Wir haben uns im Jahr 2017 wie viele andere Forschungseinrichtungen auf eine Ausschreibung des BMBF beworben“, sagt Sebastian Haunss, Professor für Politikwissenschaft am SOCIUM – Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik. „Am Ende bekam dann aber nicht eine einzelne Hochschule den Zuschlag, sondern es wurde ein bundesweites Netzwerk gegründet.“ Für die Forschenden bedeutete das, dass sie anfangs nicht nur eine Organisationsstruktur aufbauen, sondern auch die jeweils anderen Standorte mit ihren wissenschaftlichen Schwerpunkten kennenlernen mussten. So konnten sie anschließend gemeinsame Forschungsprojekte entwickeln.
In Bremen arbeiten 33 Forschende für das Institut, aus dem SOCIUM – Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik, dem Zentrum für Arbeit und Politik (zap) und dem Zentrum für Medien-, Kommunikations- und Innovationsforschung (ZeMKI). Zusätzlich zur Förderung des BMBF erhalten sie weitere Mittel vom Land Bremen. Sprecher des Bremer Standorts ist Sebastian Haunss. Der Bremer Professor für Soziologie, Olaf Groh-Samberg, leitet als Direktor das Gesamtinstitut.
Den Protest in Deutschland kartographieren
In vielen Arbeitsbereichen des Instituts spielt die Universität Bremen eine leitende Rolle, so etwa beim eingangs erwähnten „German Social Cohesion Panel“. Daneben arbeiten die Bremer Forschenden aktuell an sechs weiteren Arbeitspaketen. So baut etwa Sebastian Haunss mit Forschenden der Universität Bielefeld eine umfangreiche Datensammlung zur europäischen Protestkultur auf. „Bis in die 1960er Jahre wurden Proteste oft mit Krawallen oder Tumulten gleichgesetzt“, sagt er. Seitdem ist der Blick differenzierter geworden. Viele Forschende, darunter auch Haunss, sehen Protest inzwischen als Zeichen gelebter Demokratie.
Trotzdem fehlen bislang Daten, um Proteste genauer zu untersuchen. „In der Forschung lag der Fokus bisher auf großen Protesten, die auf nationaler Ebene relevant waren“, erläutert Haunss. Aktionen auf lokaler Ebene blieben oft unberücksichtigt. Um auch ihnen Geltung zu verschaffen, wertete das Projektteam für den Zeitraum zwischen 2000 und 2020 die Berichterstattung in lokalen Tageszeitungen zu Demonstrationen, aber auch beispielsweise zu Blockaden, offenen Briefen oder anderen Formen des Protests aus. Ihre Ergebnisse stellten die Forschenden unter protestdata.eu der Öffentlichkeit zur Verfügung. Hier finden Interessierte Daten aus sechzehn deutschen Städten – von Bremen und Leipzig bis zu Husum oder Düren.
Jenseits von TikTok und Instagram: Zusammenhalt im digitalen Raum
In der zweiten Projektphase möchten Haunss und sein Team ihren Ansatz internationalisieren. Ergänzend zu den Entwicklungen in Deutschland analysieren sie nun auch das Protestgeschehen in Italien und Ungarn. Dabei vergleichen sie die Reaktionen auf Entwicklungen und Krisen wie die Coronapandemie, die Klimakrise und den Krieg in der Ukraine. Auch das „German Social Cohesion Panel“ wird in der zweiten Phase fortgeführt.
Dazu kommen neue Projekte: So nimmt Andreas Hepp, Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft am ZeMKI der Universität Bremen mit Forschenden vom Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut (HBI) in Hamburg “Prototypen” des gesellschaftlichen Zusammenhalts in den Blick. „Plattformen wie Tiktok oder Instagram werden in der öffentlichen Wahrnehmung oft mit Radikalisierung in Zusammenhang gebracht“, sagt Hepp. Dass es auch anders geht, zeigen alternative Plattformmodelle wie etwa von Zebras Unite - einer Pioniergemeinschaft, die sich für Nachhaltigkeit, Inklusion und soziale Verantwortung in der Startup-Szene engagiert. In dem Projekt sollen am Beispiel verschiedener Pioniergemeinschaften neue Möglichkeiten der Herstellung von Zusammenhalt durch Plattformen untersucht werden. Anschließend werden diese “Prototypen” in Zukunftswerkstätten mit Interessierten im Hinblick darauf diskutiert, welche Realisierungsformen wünschenswert wären.
Überhaupt spielt der Transfer in dem Forschungsinstitut eine wesentliche Rolle. Zu den Formaten gehören zum Beispiel „Streitclubs“ in Frankfurt zu politischen und gesellschaftlichen Themen, Unterrichtsmaterialien für Lehrkräfte oder ein Servicedesk für Behörden mit Kurzanalysen zu aktuellen politischen Fragen. So bereichern die Forschenden eine Debatte, die am Ende alle angeht.