Wie Sprache und Angst zusammenhängen
Tag der Migration: Bremer Romanistinnen erforschen, wie ein offener Umgang mit Mehrsprachigkeit Ängste abbauen kann
Nur wer sich wohlfühlt, kann sein volles Potenzial ausschöpfen. Vor allem im schulischen Umfeld sind Unsicherheit und Angst große Hemmnisse für den Lernerfolg. Welche Rolle spielt die Sprache in diesem Kontext? Das erforschen Bremer Wissenschaftlerinnen als Teil des multinationalen und interdisziplinären Verbunds „Anxiety Culture“.
Das war wohl nichts. Plötzlich ist er wieder da, der sprichwörtliche Elefant im Raum. Lehrer Max Mustermann weiß manchmal einfach nicht, warum die Stimmung im Klassenzimmer plötzlich kippt. Er wollte seinen Schüler:innen Literatur aus anderen Ländern näher bringen. Dafür hat er extra ein türkisches Gedicht gelernt und in der Originalsprache vorgetragen. Das müsste die türkischstämmigen Kinder doch freuen, oder? Doch während einige ihn interessiert anschauen, reagieren ein paar Schüler:innen verstört. Sie scheinen auf ihren Stühlen regelrecht zu schrumpfen. Was ist bloß passiert? Die Szene ist fiktiv und ein wenig überzeichnet. Doch sie illustriert recht plakativ, wofür sich die Bremer Sprachwissenschaftlerin Bàrbara Roviró einsetzt: mehr sprachliche und kulturelle Sensibilität im Klassenraum. Hätte Max seine Schüler:innen mal gefragt, welche Sprache(n) sie sprechen, wäre ihm solch ein Fauxpas erspart geblieben. Dann hätte er gewusst, dass einige der vermeintlich türkischstämmigen Kinder in Wahrheit einen kurdischen Hintergrund haben. Und dass die türkische Sprache bei ihnen keineswegs Begeisterung hervorruft, sondern eher dafür sorgt, dass sie sich in ihrer kurdischen Identität missachtet fühlen. „Erleben die Kinder und Jugendlichen so etwas häufiger, fühlen sie sich nicht richtig wahrgenommen. Das kann zu Unwohlsein und Verängstigung führen“, erklärt die Forscherin.
Herkunftssprache ist großer Schatz
Eine Entwicklung, die ihrer Erfahrung nach keine Seltenheit in deutschen Klassenzimmern ist. „Dabei ist die Herkunftssprache ein großer Schatz. Allerdings findet dieser Schatz im Schulalltag in der Regel wenig Beachtung“, sagt Bàrbara Roviró. Die Hispanistin erforscht in der Arbeitsgruppe „Didaktik romanischer Sprachen“ am Fachbereich 10 - Sprach- und Literaturwissenschaften der Universität Bremen den Zusammenhang von Migration, Sprache und Angst. Ihre Kernfragen: Wie wird der Mehrsprachigkeit von Migrant:innen in der westlichen Welt begegnet? Ist sie ein Faktor, der Ängste auslösen kann? Die Forscherin geht sogar noch einen Schritt weiter: Welche Erfahrungen machen Menschen, die eine Sprache mitbringen, die kaum verbreitet ist?
„Migrant:innen, die eine Minderheitensprache sprechen, erleben häufig eine Art doppelter Stigmatisierung“, erklärt Roviró. Erstens, weil sie in der Regel noch nicht so gut Deutsch sprechen, und zweitens, weil ihre Herkunftssprache keiner starken Nationalsprache zuzuordnen und deswegen weitgehend unbekannt ist. „Sie erfahren, dass die Menschen in Deutschland sich für ihre Sprache und Kultur gar nicht interessieren. Es fühlt sich für sie so an, als würde dieser Teil ihrer Identität ausgeblendet und negiert. Das verunsichert und schürt Ängste im Umgang miteinander“, sagt Roviró.
Lehramtsstudium: Für Mehrsprachigkeit sensibilisieren
Bei Schüler:innen ist dies ein besonders ernstzunehmendes Problem, da die Angst, nicht gesehen zu werden, ihre Lernchancen und damit ihre persönliche Entwicklung negativ beeinflussen kann. Um dieses Risiko zu minimieren, haben die Themen Mehrsprachigkeit und interkulturelle Kompetenz einen festen Platz im Lehramtsstudium an der Universität Bremen. Dabei geht es laut Roviró nicht darum, den Lehrplan zu revolutionieren. „Lehrkräfte sollten einfach mehr Natürlichkeit walten lassen. Einfach mal nachfragen statt abwehren und negieren“, rät die Didaktikerin. Denkbar wäre zudem, das Thema spielerisch im Unterricht aufzugreifen und beispielsweise mal zu kartographieren, welche Sprachen im Klassenraum vertreten sind. „Das ermöglicht ganz neue Kommunikationskanäle. Die Kinder fühlen sich so wahrgenommen wie sie sind, was zu mehr Wohlbefinden und einer besseren Lernatmosphäre führt. Solche kleinen Maßnahmen kosten nichts und bringen so viel“, findet die Forscherin.
Eine globale Kultur der Angst
Doch das Engagement der Forscherin zum Themenkomplex Angst endet nicht im Klassenzimmer. Sie ist Teil des multinationalen und interdisziplinären Forschungsprojekts „Anxiety Culture“: Etwa 30 Sozial- und Geisteswissenschaftler:innen aus Europa und den USA untersuchen „kollektive Angst“ und damit Formen der Angst auf gesellschaftlicher Ebene. Ihrer Überzeugung nach sind viele der aktuellen globalen Probleme mit Ängsten behaftet, beispielsweise die Klimakatastrophe, der Abwärtstrend in der Wirtschaft oder das Erstarken extremer Kräfte in der Politik. Diese Zusammenhänge wollen sie besser verstehen.
Kürzlich haben sie ihre zentralen Erkenntnisse in dem Sammelband „Anxiety Culture – The New Global State of Human Affairs“ („Angstkultur – der neue globale Zustand der Menschheit“) veröffentlicht. Eine der Herausgeber:innen ist die Bremer Professorin Karen Struve. Die Literaturwissenschaftlerin ist zugleich eine der Principal Investigator des Langzeit-Projekts. „Ein Fokus meiner Forschung sind die Narrative der kollektiven Angst“, sagt die Romanistin. Sie versuche herauszufinden, wie Angst überhaupt erzählt werden kann. „Das Wort „Angst“ kommt aus dem Indogermanischen und heißt eng, im Sinne von: Der Hals wird eng, ich kann mich nicht mehr artikulieren“, beschreibt Struve. Wie schaffen es Menschen dennoch, ihrer Angst Ausdruck zu verleihen? „Häufig über Geschichten oder durch Kunst“, erklärt Struve. Was in und durch diese Erzählungen genau passiert, möchte sie besser verstehen.
Im Anxiety-Culture-Verbund sind auch Politolog:innen aktiv. Sie legen ihren Fokus auf die Angst-Diskurse: Wie wird Angst in der Politik artikuliert und genutzt, wie wird mit ihrer Hilfe manipuliert – beispielsweise bei der Migrationsdebatte? „Das Thema bietet sehr viele Dimensionen und Anknüpfungspunkte. Wir versuchen einen möglichst weiten Blick auf das globale Phänomen“, sagt Struve. Bàrbara Rovirós Blick zum Themenkomplex Angst richtet sich auch auf das soziale Umfeld der Schüler:innen. In ihrem Sammelband-Beitrag „Multilingual Anxiety in Migration Contexts“, den sie gemeinsam mit Eva J. Daussà von der Universität Amsterdam verfasst hat, greift sie nicht nur den Zusammenhang von Migration, Mehrsprachigkeit und Angst auf, sondern erläutert zudem konkrete Maßnahmen, die Abhilfe schaffen könnten. Die gebürtige Katalanin möchte die Gesellschaft sensibilisieren für die Herausforderungen, denen insbesondere Angehörige von Minderheitengruppen gegenüberstehen: „Ein sensibler Umgang mit Minderheitensprachen trägt zu glücklichen Migrationsgeschichten bei. Davon bin ich überzeugt“.
Weitere Informationen
Webseite des Forschungsprojekts „Anxiety Culture“ (auf Englisch)
Webseite der Arbeitsgruppe „Didaktik romanischer Sprachen“ der Universität Bremen
Webseite der Arbeitsgruppe „Französische Literaturwissenschaft“ der Universität Bremen