Windkraftanlagen länger nutzen
Lebensdauer und Sicherheit rauf, Wartungs- und Stromerzeugungskosten sowie CO2-Ausstoß runter: Das ist das Ziel eines Forschungsvorhabens unter Beteiligung von Mitgliedseinrichtungen der U Bremen Research Alliance.
Forschende vom Leibniz-Institut für Werkstofforientierte Technologien - IWT und dem Fraunhofer-Institut für Windenergiesysteme IWES haben ein Bauteil von Windkraftanlagen im Visier, das viel auszuhalten hat: das Rotorblattlager.
Sie habe eine natürliche Vorliebe für Stahl, sagt Brigitte Clausen. Was sie an dem Werkstoff so fasziniert? „Er hat variable Eigenschaften, ist sehr gut formbar und recyclingfähig. Mit verschiedenen Hilfsmitteln lässt sich nachverfolgen, was in dem Metall passiert, wie die Prozesse ablaufen; das zu sehen und zu erleben, ist einfach unglaublich!“ Und wenn man als Wissenschaftlerin dann noch einen kleinen Beitrag zum Gelingen der Energiewende leisten könne, „dann finde ich das richtig gut“.
Gesellschaftlichen Nutzen und wissenschaftliches Interesse – diese beiden Aspekte verbindet ein Forschungsvorhaben nahezu idealtypisch, an dem die 54-jährige Leiterin der Abteilung Strukturmechanik am Leibniz-Institut für Werkstofforientierte Technologien – IWT maßgeblich beteiligt ist. Es trägt den etwas sperrigen Titel „Auslegung hochbelasteter Drehverbindungen“, kurz: HBDV. Dabei geht es um Windkraftanlagen. Genauer: um die Verbindung zwischen Rotorblatt und Rotornabe, um die aus Stahl geformten Wälzlager, die die Blätter halten, die Drehbewegung zulassen und dabei enormen Kräften ausgesetzt sind. Wie lässt sich deren Lebensdauer vorhersagen und verlängern? Das ist die Frage.
Rund 30.000 Windkraftanlagen erzeugen derzeit in der Bundesrepublik grünen Strom. Es werden deutlich mehr werden, so viel ist sicher. Manche Forschende prognostizieren eine Verdoppelung ihrer Zahl. Die Windkraft spielt beim Ausbau der erneuerbaren Energien und Erreichen der Klimaziele eine zentrale Rolle. Bis 2030 soll der Stromanteil aus regenerativen Quellen in Deutschland auf 65 Prozent steigen, ein Großteil davon wird per Windenergie erzeugt werden. EU-weit soll die Hälfte des Stroms in Europa bis 2050 aus Windkraft gewonnen werden.
„Mit verschiedenen Hilfsmitteln lässt sich nachverfolgen, was in dem Metall passiert, wie die Prozesse ablaufen; das zu sehen und zu erleben, ist einfach unglaublich!“ Brigitte Clausen
Immer leistungsfähiger werden die Anlagen, nicht zuletzt durch größere Rotorblätter und Computersteuerung. „Bei älteren Anlagen wurden die Rotorblätter, einfach ausgedrückt, morgens und abends einmal zum Wind ausgerichtet und das war’s“, erläutert Dipl.-Ing. Vera Friederici, die gemeinsam mit Dr.-Ing. Jens Schumacher als wissenschaftliche Mitarbeiterin für das HBDV-Projekt am Leibniz-IWT arbeitet. „Neuere Anlagen versuchen, eine möglichst gleichmäßige Windlast herzustellen. Selbst den Windschatten, der bei jeder Drehung eines Flügels durch das Passieren des Turms entsteht, gleichen sie durch eine minimale Korrektur der Flügelstellung im Bruchteil einer Sekunde aus.“
Diese permanente Anpassung hat Auswirkungen auf die Wälzlager, die aus speziell gehärtetem Vergütungsstahl geformt sind. Die relativ kleinen Ausgleichsbewegungen bewirken ein Hin- und Herrollen der Kugeln auf einer sehr kleinen Fläche bei großer Belastung. Dafür sind die Lager ursprünglich nicht ausgelegt. Mit mehr als 100 Millionen Umdrehungen im Lauf einer durchschnittlichen Lebensdauer von 20 Jahren kalkulieren die Erbauer der Windkraftanlagen.
2,2 Meter im Durchmesser sind die Rotorblattlager, das entspricht in der Höhe etwa einer Wohnungstür. Ihre doppelreihigen Kugellager sind mit 102 Kugeln pro Laufbahn gefüllt, jede hat nahezu den Umfang eines Tennisballs. Wie hält der Stahl den andauernden Belastungen durch die Bewegungen der Kugeln stand? Führen sie zur Ermüdung? Entstehen Risse? Und wenn ja: Wohin wachsen sie? Sind sie ungefährlich oder gefährden sie das Lager – und mit ihm die Anlage? „An diesen Themen forschen wir“, sagt Brigitte Clausen.
Die Wissenschaftler:innen betreten damit Neuland. Untersuchungen zu den Belastungen der Drehverbindungen in einer Windkraftanlage sind Mangelware, zertifizierte Ansätze zur Abschätzung der Lebensdauer der Rotorblattlager gibt es bislang nicht. Von einem Modellprojekt spricht Brigitte Clausen, deren Leidenschaft für Stahl und andere Werkstoffe durch eine Lehre als Werkstoffprüferin bei der Stahlhütte Klöckner geweckt worden ist. Später hat sie an der Universität Bremen Produktionstechnik studiert, seit 1996 ist sie am IWT beschäftigt.
Modellcharakter hat HBDV auch deshalb, weil an dem Forschungsprojekt, das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie mit 3,8 Millionen Euro gefördert wird, viele große Hersteller von Windanlagen beteiligt sind, trotz der Konkurrenz untereinander. Schließlich verursachen Schäden an den Lagern lange Ausfallzeiten und hohe Kosten durch Stillstand und für die Reparatur, und zwar ganz unabhängig vom Hersteller.
Neben dem Leibniz-IWT sind fünf weitere Forschungsinstitute an dem Projekt beteiligt, darunter von der U Bremen Research Alliance das Fraunhofer-Institut für Windenergiesysteme IWES. Die Mitarbeitenden dort forschen an den Verschleißschäden auf der Laufbahn eines Lagers, die durch die ständigen kleinen Bewegungen der Kugeln bei sehr großen Lasten verursacht werden können. „Wir untersuchen, unter welchen Betriebsbelastungen diese Schäden entstehen, wie schnell sie auftreten können und wie sie sich vermeiden lassen“, sagt Karsten Behnke, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter des Forschungsprojekts am Fraunhofer IWES. „Die Kooperation spielt eine ganz wichtige Rolle“, ergänzt Vera Friederici. „Wir arbeiten Hand in Hand und ergänzen uns hervorragend.” In 14-tägigen Treffen, manchmal bilateral, manchmal in großer Runde, tauschen sich die Beteiligten untereinander aus und besprechen die nächsten Arbeitsschritte.
Wie die Belastungen des Lagerwerkstoffs nachgeahmt werden, zeigt die Diplom-Ingenieurin an einem Prüfstand in der Maschinenhalle des IWT. Dort versetzt eine Schwingprüfmaschine die handtellergroße Probe in Schwingungen. Sie ist mit einer kleinen Kerbe versehen, von der ein kaum sichtbarer Riss ausgeht.
„Abhängig von der Kraft, die wir aufwenden, wachsen die Risse“, erläutert Vera Friederici. „Wir messen, wie schnell und in welcher Richtung der Riss bei einer bestimmten Belastung wächst.“ Mit den Daten wird ein Simulationsmodell gefüttert, mit dem das Werkstoffverhalten vorhergesagt werden kann.
„Die Kooperation spielt eine ganz wichtige Rolle. Wir arbeiten Hand in Hand und ergänzen uns hervorragend.” Vera Friederici
Mehr als ein Dutzend Maschinen, die in unterschiedlichen Last- und Frequenzbereichen arbeiten, füllen die Halle. Ein komplettes Wälzlager haben Mitarbeitende des Leibniz-IWT zerschnitten und daraus Materialproben gefertigt. „Die Proben liefern uns ganz viele Messdaten. Wir übertragen sie auf ein komplettes Lager und können mit ihrer Hilfe eine Lebensdauerprognose erstellen“, erklärt die 38-jährige, die über einen Teilbereich des Projektes auch promoviert. „Diesen Prozess der Übertragung vom Kleinen ins Große, von Erkenntnissen aus den Proben auf das gesamte Lager, finde ich richtig spannend.“
Für Brigitte Clausen macht die Forschung an den gegensätzlichen Materialeigenschaften einen wesentlichen Teil ihres wissenschaftlichen Interesses an dem Projekt aus. Während die Kugeln im Lager und ihre Laufbahn gehärtet sind, ist das sie umgebende Material eher zäh, was wiederum Auswirkungen auf die Rissbildung hat. „Aufgrund des Zustandes des Werkstoffes und der Spannung sind wir jetzt in der Lage vorherzusagen, in welche Richtung und mit welcher Geschwindigkeit sich ein Riss entwickelt und ob er kritisch ist. Das konnten wir vorher nicht“, erzählt sie. Die Gefährdung durch Materialermüdung und Risse lasse sich nun viel besser einschätzen, ebenso die Notwendigkeit von Wartungen.
Im Frühjahr soll das Projekt abgeschlossen sein. Die Ergebnisse der Forschung fließen in eine Richtlinie ein, die es den Windkraftunternehmen ermöglicht, die Rotorblattlager genauer zu bewerten und sicherer zu machen. In der Folge werden die Windkraftanlagen länger Strom produzieren können, die Stromerzeugungskosten sinken und mit ihnen auch der CO2-Ausstoß.
Die Forschenden aus der U Bremen Research Alliance jedenfalls sind zufrieden mit den Resultaten ihrer Arbeit. „Dazu beigetragen zu haben, eine Schwachstelle zu eliminieren und damit auch Ressourcen zu schonen, ist schon ein gutes Gefühl“, sagt Brigitte Clausen.
Korrosionsschutz für Windkraftanlagen
Umweltgerechter Korrosionsschutz für Offshore-Windkraftanlagen ist eine besondere Herausforderung. Wie er sich verbessern und sich der Betrieb dieser Anlagen langlebiger und kostengünstiger gestalten lässt, hat ein Forschungsprojekt untersucht, das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie gefördert worden ist. An ihm waren die Amtliche Materialprüfungsanstalt (MPA) – Geschäftsbereich des Leibniz-IWT – zusammen mit dem Fraunhofer IFAM und der Bundesanstalt für Wasserbau beteiligt. Die Ergebnisse fanden Eingang in die Konstruktion und Wartung von Offshore-Windkraftanlagen aufseiten der Industrie und Überwachungsbehörden. So zeigten Feldversuche, dass im Sediment vorkommende Mikroorganismen großen Einfluss auf die Korrosion der Gründungsstrukturen haben.
Der Artikel stammt aus Impact - Dem Wissenschafts-Magazin der U Bremen Research Alliance
In der U Bremen Research Alliance kooperieren die Universität Bremen und zwölf Institute der bundländerfinanzierten außeruniversitären Forschung. Die Zusammenarbeit erstreckt sich über vier Wissenschaftsschwerpunkte und somit „Von der Tiefsee bis ins Weltall“. Das Wissenschafts-Magazin Impact gibt zweimal im Jahr spannende Einblicke in das Wirken der kooperativen Forschung in Bremen.