Zwischen Glaube und Pandemie
Wie Corona religiöse Gemeinschaften verändert hat
Ostern 2020: Anstatt mit zehntausenden von Gläubigen feierte der Papst allein mit wenigen anderen Klerikern die Ostermesse. Woanders florierten digitale Angebote, etwa ein Ostergottesdienst der US-amerikanischen Lakewood Church, mit über 195.000 Aufrufen allein auf YouTube. Wie lange die Pandemie noch andauern und welche gesellschaftlichen und ethischen Debatten sie hervorbringen würde, war damals noch nicht abzusehen. Jetzt aber ist es Zeit für eine Bilanz: Wie haben sich religiöse Gemeinschaften in Diskursen über Gesundheit und Krankheit positioniert, etwa in Bezug auf Impfungen? In welchem Verhältnis standen Glaubensgemeinschaften und nationale Regierungen zueinander? Und welche Rolle haben digitale Angebote für das Glaubensleben gespielt? Das untersucht das Projekt „RECOV-19“
Im Projekt analysieren zehn Forschende aus vier Ländern, wie sich die Pandemie auf das religiöse Leben in Deutschland, Polen, Russland und Belarus, Irland und Nordirland sowie Kanada ausgewirkt hat. „Auf der einen Seite haben diese Länder viel gemeinsam. So ist etwa in allen das Christentum die vorherrschende Religion“, sagt Kerstin Radde-Antweiler, Professorin für Religionswissenschaft, die das deutsche Team des Projekts leitet.
Gleichzeitig machen die Unterschiede zwischen den Ländern einen Vergleich interessant: Kanada und Deutschland gelten als besonders säkularisiert und außerdem als Länder mit einer großen Vielfalt an verschiedenen Glaubensgemeinschaften. In Polen, Irland/Nordirland, Belarus und Russland hingegen spielen Glaube und Religion eine größere Rolle, gleichzeitig sind die Länder in religiöser Hinsicht homogener. Auch hinsichtlich der staatlichen Einschränkungen auf die Religionsausübung während der Pandemie unterschieden sich die Länder stark voneinander.
Von Medienauswertung bis Interviews
Das Team begann schon 2022 mit seinen Untersuchungen, die über einen Zeitraum von drei Jahren durch die Trans-Atlantic Platform for Social Sciences and Humanities (T-AP) gefördert werden. Die Forschenden, größtenteils mit einem Hintergrund in Soziologie und Religionswissenschaft, verfolgen dabei unterschiedliche methodische Ansätze: Zum einen untersuchen sie Veröffentlichungen der verschiedenen Religionsgemeinschaften. „Dazu zählen ihre eigenen Websites, aber auch religiöse Publikationen, in Deutschland etwa die Website katholisch.de oder das evangelische Magazin Chrismon“, erläutert Radde-Antweiler. Darüber hinaus führen die Forschenden aktuell Interviews mit verschiedenen Personengruppen: Sie sprechen sowohl mit Leitungsfiguren der verschiedenen Religionsgemeinschaften als auch mit gewöhnlichen Gemeindemitgliedern, außerdem mit Medienschaffenden religiöser Publikationen. Für jedes Land befassen sich die Forschenden zum einen mit den jeweils größten Religionsgemeinschaften, in Deutschland also die römisch-katholische Kirche und die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). Daneben nehmen sie jeweils kleinere Gemeinschaften in den Blick, in Deutschland muslimische Gemeinden und die anthroposophische Gesellschaft. Letztere ist zwar keine religiöse Gruppierung, gilt aber als Weltanschauung und spielt vor allem im Bildungs- und Gesundheitssektor eine Rolle.
„Viele haben ihre Kirchengemeinde nicht vermisst“
Eine erste Erkenntnis, zu der Radde-Antweiler für Deutschland gekommen ist: „Viele Gläubige der beiden großen Kirchen haben ihre Gemeinden während der Pandemie kaum vermisst.“ Die Bereitschaft, für eine Kirchenmitgliedschaft zu bezahlen und zu sich zu ihr zu bekennen, sei während dieser Zeit weiter gesunken. Dies hat nicht nur etwas mit der Pandemie zu tun, so trugen weitere Faktoren, etwa die Aufdeckung von Missbrauchsfällen, dazu bei, dass mehr und mehr Menschen den Kirchen den Rücken kehren.
Die Säkularisierung der Gesellschaft hat sich also während der Pandemie fortgesetzt – aber vielleicht auch die Säkularisierung der Kirchen selbst? Zumindest deuten einige Befunde des Forschungsteams genau darauf hin. „Wir haben festgestellt, dass die beiden großen Kirchen in Deutschland die Pandemie kaum religiös gedeutet haben“, sagt Radde-Antweiler. Religiöse Medien appellierten größtenteils allgemein an die Nächstenliebe und riefen zum Befolgen der Maßnahmen auf. Spezifisch religiöse Deutungen wurden eher in akademischen theologischen Diskussionen ausgetauscht.
Mit dieser eher säkularen Deutung nahmen die Kirchen in Deutschland allerdings eine Sonderrolle ein. In anderen Ländern verwiesen orthodoxe oder römisch-katholische Theolog:innen vielfach auf die Sündhaftigkeit der Welt, um die Entstehung der Pandemie zu erklären. Auch die anthroposophische Gesellschaft in Deutschland argumentierte ähnlich: Die Verfehlungen moderner Gesellschaften hätten die Pandemie erst hervorgebracht.
Warum digitale Angebote nicht von Dauer sind
Was hingegen fast alle religiösen Gemeinschaften eint, ist die schnelle Umstellung auf digitale Angebote während der Pandemie. Schon im Frühjahr 2020 etablierten sich Formate wie gestreamte Gottesdienste oder digitale Andachten. „Wir haben aber herausgefunden, dass solche Angebote nach der Pandemie schnell wieder eingestellt wurden, und zwar in allen untersuchten Ländern“, sagt Radde-Antweiler. Zwar hätten viele Kirchenmitglieder weiterhin daran Interesse, doch die Umsetzung scheitere oft an den Leitungspersonen der Religionsgemeinschaften. Ihnen gehe es eher darum, die eigene Gemeinde vor Ort zu stärken, nimmt Radde-Antweiler aus den Interviews mit den Kirchenvertreter:innen mit.
Noch ein anderes Thema kam in diesen Gesprächen häufig vor: die politische Positionierung der Kirchen während der Pandemie. „Unsere Forschung zeigt, dass die beiden großen Kirchen in Deutschland Maßnahmen wie Ausgangssperren oder Kontaktverbote besonders stark unterstützt haben“, sagt Radde-Antweiler. Nicht alle Kirchenvertreter:innen sind auch im Nachhinein mit dieser Haltung einverstanden. Man hätte mehr auf kritische Stimmen eingehen müssen, äußerten sich viele von ihnen in den Interviews mit den Forschenden. „Hier fangen jetzt in den Kirchen, wie auch in der Gesellschaft insgesamt Reflexionsprozesse an, an denen wir mit unserem Projekt teilhaben können“, sagt Radde-Antweiler.