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„Ich konnte mir nicht vorstellen, einen normalen Beruf zu haben“

Menschenrechtsaktivist Robert van Voren über seine Zeit als Kurier politischer Dissidenten in der UdSSR

Uni & Gesellschaft

In den 1980er Jahren reiste der Menschenrechtsaktivist Robert van Voren als Kurier regelmäßig die Sowjetunion und schmuggelte Informationen von und über politisch Verfolgte in den Westen. Ein Teil seines Vorlasses liegt heute in der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen (FSO). Im Interview verrät er, wie er zum Kurier wurde, warum eine Überwachung durch den KGB auch nützlich sein konnte und wer seinen Wintermantel trug.

Wie wird aus einem niederländischen Geschichtsstudenten ein Kurier für politisch Verfolgte in der Sowjetunion?

In den 1970er Jahren weckte mein Vater mein Interesse für die Sowjetunion. Ich habe viel dazu gelesen, aber dennoch hatte ich immer noch Fragen. 1976 wurde Wladimir Bukowski in den Westen ausgetauscht und ich beschloss, ihm einen Brief mit 44 Fragen zu schreiben. Erstaunlicherweise hat er geantwortet. Wir begannen, uns zu schreiben und wurden Freunde. 1978 flog ich nach London, um ihn zu besuchen. Dort stellte er mir Peter Reddaway, Professor an der London School of Economics, vor. Er war die zentrale Figur bei der Entsendung von Kurieren in die Sowjetunion. Bukowski hatte folgende Idee: Ich sollte fertig studieren und dann als Journalist nach Moskau gehen. So sollte ich als Briefkasten fungieren.

Es kam dann aber anders: Sie sind bereits mit 20 Jahren als Kurier nach Leningrad – ins heutige Sankt Petersburg – geflogen. Was war passiert?

Während meines Sowjetologie-Studiums befreundete ich mich mit einem Moskauer Dissidenten. Wir haben einmal im Monat telefoniert und im Februar 1980 sagte er zu mir: „Robert, wenn du einen Dissidenten sehen willst, musst du kommen, weil sie uns alle verhaften.“ Daraufhin habe ich mich entschieden, nicht mehr zu warten, sondern sofort in die Sowjetunion zu reisen. An dem Tag, an dem ich die Reise buchte, wurde er verhaftet. Erst nach seiner Entlassung, vier Jahre später, haben wir uns das erste Mal getroffen. So hat alles angefangen.

Aber was mein Leben wirklich verändert hat, war ein Erlebnis während meiner zweiten Reise nach Moskau im März 1980. Quasi jeder, den ich während der Reise getroffen habe, wurde verhaftet. Einige sogar, während ich in der Sowjetunion war. Und dann habe ich den estnischen Vogelkundler Mart Niklus kennengelernt. Für seine Beteiligung am sogenannten Baltischen Appell, der unter anderem forderte, die Unabhängigkeit der baltischen Staaten von der Sowjetunion wiederherzustellen, wurde er zu fünfzehn Jahren Gefängnis und Exil verurteilt. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, einem normalen Beruf nachzugehen, während er im Gefängnis war. Also schwor ich mir, so lange diese Arbeit zu machen, bis er entlassen wird.

Was hat Ihre Familie von Ihren Plänen gehalten?

Meine Mutter war begeistert – ihr Bruder hatte gegen die Nationalsozialisten gekämpft und sie sah mein Engagement als eine logische Weiterführung.

Wie sah der Kurierdienst konkret aus?

Mein Job war es, Hilfspakete in die Sowjetunion zu bringen und mit Informationen zurück zu kommen. Oft bin ich als Tourist getarnt als Teil einer Reisegruppe gereist. Auf diese Weise wollten wir den russischen Dissidenten und ihren Familien helfen: ob im Straflager, im Exil oder in Freiheit. Auf dem Hinflug nahm ich verschiedene Hilfsgüter mit: Thermounterwäsche, warme Kleidung, Medikamente sowie Vitamintabletten und Brühwürfel, um die Ernährung der Menschen in den Straflagern zu verbessern. Im Winter hatte ich immer einen neuen Mantel bei der Einreise an, den ich verschenken konnte. Der Friedensnobelpreisträger Andrei Sacharow lief im Winter 1984 mit meinem Mantel herum, darauf war ich sehr stolz.

Zurückgebracht habe ich Informationen: über die Unterdrückung, Verhaftung und Verurteilung von Dissidenten. Außerdem schmuggelte ich selbstverlegte, nicht systemkonforme Literatur durch den Eisernen Vorhang, den sogenannten Samisdat.

Wie haben Sie die Texte aus der Sowjetunion herausbekommen?

Einige Texte lernte ich auswendig, andere fotografierte ich mit Diafilm ab. Im Unterschied zu Farb- oder Schwarzweißfilmen, konnten Diafilme am Flughafen nicht rechtzeitig vor dem Abflug entwickelt und gesichtet werden. Als zusätzliche Sicherheitsmaßnahme wickelte ich die Filme wieder auf und steckte sie zurück in die Verpackung. Ich habe die Sowjetunion also regelmäßig mit zehn bis zwölf „ungenutzten“ Diafilmen verlassen. Wenn sie die Leibesvisitation bei mir durchführten, lagen die Filme in meiner Reisetasche auf einem Tisch und gingen unbemerkt durch die Kontrollen. Zurück in den Niederlanden entwickelte ich die Filme, druckte die Schriften und verteilte sie über Adresslisten in ganz Europa.

Gab es außer Ihnen noch andere Kuriere?

Seit den 1960er Jahren reisten Kuriere mehrmals im Jahr in die Sowjetunion, etwa nach Moskau, Kiew und Leningrad. Sie waren essentiell für die Verbindung zwischen der Dissidenten-Bewegung und ihren westlichen Unterstützerinnen und Unterstützern. In den 1980er Jahren standen wir Kuriere miteinander in Kontakt und planten unsere Reisen in die Sowjetunion so, dass einmal im Monat jemand in die UdSSR reiste. Wir nutzen das Netzwerk auch dazu, Informationen zu verbreiten und uns gegenseitig zu warnen. Auf einem Flug wurde einer der Kuriere vergiftet. Anschließend haben wir entschieden, in der Öffentlichkeit nichts mehr zu essen und zu trinken.

Was war Ihr erster Eindruck von der Sowjetunion?

Angst! Ich hatte bei meiner Ankunft in Leningrad im Februar 1980 eine Heidenangst. Ich hatte keine Ahnung, was mich hinter dem Eisernen Vorhang erwarten würde, ich habe überall KGB-Agenten gesehen. Dieses Gefühl habe ich erst drei Jahre später verloren, als ich verhaftet wurde. Ich hatte in Moskau ein Treffen mit dem Independent Peace Movement. Da die Wohnung abgehört wurde, sind wir in einen Park gegangen. Dort standen überraschend viele Leute an Bäumen, um zu pinkeln. Bevor ich begreifen konnte, was passiert, waren wir umzingelt. In zwei Polizeiautos wurden wir auf die Wache gebracht und befragt. Dort habe ich erkannt, dass die Agenten normale Menschen waren, die ihren Job machten. Ich habe ihre Gesichter gesehen. Damit war der KGB für mich entzaubert und meine Angst verschwunden.

Auf meinen späteren Reisen konnte ich der Überwachung durch KGB-Agenten sogar etwas Gutes abgewinnen: Ich hatte immer Bodyguards dabei, vor allem, wenn ich nachts in Vierteln am Stadtrand unterwegs war, fühlte ich mich so sicherer. Als ich in den 1988er und 1989er Jahren im Zuge der Reformen in der Sowjetunion immer seltener observiert wurde, fühlte ich mich fast ungeschützt – so sehr hatte ich mich an sie gewöhnt.

Die Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen bewahrt viele Ihrer Dokumente als Vorlass auf. Wie wichtig ist in Ihren Augen die Arbeit der FSO?

Die FSO ist von großer Bedeutung, vor allem für zukünftige Generationen. Ich denke, dass wir nur eine Zukunft haben, wenn wir über unsere Vergangenheit Bescheid wissen. In diesem Archiv liegen nicht nur Bücher und Dokumente, sondern persönliche Gegenstände von echten Menschen, die aus Zufall oder Absicht zu politischen Dissidenten wurden.

Mein Vorlass ist aus einem bestimmten Grund hier in der FSO: In Bremen ist er sicher! Auch die NGO Memorial in Moskau hatte Interesse an meinem Archiv, aber dort wäre es nicht sicher. Mit Bremen habe ich eine gute Entscheidung getroffen.

Infos zur Forschungsstelle Osteuropa

Das unabhängige Archiv der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen hat es sich seit seiner Gründung 1982 zur Aufgabe gemacht, Zeugnisse kritischen Denkens in Osteuropa zu sammeln und zu erforschen. Es verfügt heute über eine weltweit einzigartige Sammlung von mehr als 600 Vor- und Nachlässen ehemaliger Regimekritikerinnen und -kritiker, Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten, Schriftstellerinnen und Schriftsteller sowie Künstlerinnen und Künstler aus der ehemaligen Sowjetunion; aus Polen und der ehemaligen Tschechoslowakei wurden einmalige Bestände an selbstveröffentlichter Literatur (Samisdatliteratur), Flugblättern und Untergrundbriefmarken zusammengetragen. Kleinere Sammlungen stammen auch aus der ehemaligen DDR und Ungarn.

Quellen wie die, die Robert van Voren in den 1980er Jahren in den Westen geschmuggelt hat, sind Teil eines Archiverschließungsprojekts, das die Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen seit 2019 durchführt und das aus Mitteln der Bundesstiftung Aufarbeitung der SED Diktatur gefördert wird. Ziel des Projekts ist es, die im Archivder FSO vorhandenen Materialien zu ehemalig politisch Verfolgten und den Straflagern schnellstmöglich zu erfassen und für die Forschung aufzubereiten.

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